Sitzen und schweigen, zweiter Teil

Romana hat den Jänner am Green Gulch Zen Center in der Nähe von San Francisco verbracht. Wie sie ihr Schweige-Retreat erlebt hat, schildert sie hier.

von Harald Sager

Das Green Gulch Zen Center liegt etwa 20 Fahrminuten südlich von San Francisco in Marine County in der Nähe der Ortschaft Muir Beach. Es ist eine der beiden Außenstellen des San Francisco Zen Center, das Anfang der sechziger Jahre von dem bekannten Meditationslehrer Shunryū Suzuki Roshi gegründet worden ist. Die andere ist das Tassajara Zen Mountain Center bei Big Sur, das erste buddhistische Kloster außerhalb Asiens. Shunryū Suzuki Roshi war maßgeblich an der Verbreitung von Zen in den Vereinigten Staaten beteiligt, seine Vorträge wurden zu dem Buch „Zen Mind, Beginner´s Mind“ zusammengefasst, das weltbekannt wurde.

Green Gulch ist zugleich auch eine Obst- und Gemüsefarm, die von der Community betrieben wird und das ebenfalls zum Zen Center gehörende Restaurant „Greens“ – eine erste Adresse in puncto vegetarisches Essen – mit Zutaten versorgt.

Harald: Wie kamst Du auf die Idee, ein Retreat in Green Gulch mitzumachen?

Romana: Doris Harder, die im Vorjahr bei uns die Meditationsklassen geleitet hat, ist vor ein paar Monaten ans San Francisco Zen Center zurückgezogen und lebt jetzt wieder dort. Ich bin mit ihr in Kontakt geblieben, und es hat mich interessiert, ein Retreat über einen längeren Zeitraum zu machen. Ich habe mich dann bei Tenshin Reb Anderson, der das Retreat leitete, beworben und wurde angenommen. Reb ist ein Schüler von Shunryū Suzuki Roshi.

Harald: Was war das Retreat, an dem Du teilnahmst, genau?

Romana: Es nannte sich die January Practice Period und dauerte drei Wochen. In den ersten beiden lag der Fokus vor allem auf dem Sitzen aus ganzem Herzen („with wholeheartedness“) sowie auf Samadhi. Das war auch das Generalthema von Rebs täglichen Vorträgen. Die letzten fünf Tage waren als Sesshin, als Periode intensiveren Sitzens, angelegt. Dabei entfiel die Nachmittagsarbeit.

Harald: Was meinst Du mit Samadhi?

Romana: Der Begriff Samadhi ist uns aus dem Yoga geläufig, aber es ist ein schwer erklärbarer Geisteszustand, weil er im Grunde jenseits der sprachlichen Ebene ist. Normalerweise ist unser Geist ja ständig beschäftigt und in Bewegung, die Assoziations- und Gedankenketten rattern unaufhörlich. Man kann sich das wie ein mit Wasser gefülltes Becken vorstellen, das unablässig aufgewühlt wird.

In Samadhi setzt sich das, unser Geist kommt zur Ruhe. Plötzlich ist die Stille da, die Klarheit, das „schauende Sosein“. Der geistige Raum ist dann wie ein mit klarem Wasser gefülltes Becken. Da schwimmt schon der eine oder andere Fisch – sprich, Gedanke – von einem Eck zum anderen, aber er wühlt nicht gleich das ganze Wasser auf. Es bleibt relativ unbewegt. So in etwa stellen sich die – relativ kurzen – Momente der Klarheit in der Meditation dar. Eine Cinemascope-Breitwand-Geistesklarheit, die das Blickfeld weitet.

Das Schöne an der Meditation ist, dass wir unserem Geist bei der Arbeit zusehen können. Normalerweise sind wir ja so mit unserem Denken involviert, dass wir diesen Beobachterposten nicht einnehmen können. In der Meditation geht das aber. Durch das Setting, komplett stillzuhalten, kommt unser Denken schön zum Vorschein, und da kommen wir drauf, dass es eine bloße physiologische Funktion ist, eine Art Registrier-Rechner, der aufnimmt, verarbeitet, fortspinnt, was ihm an Impulsen zugetragen wird. Es pumpt und pumpt permanent, wie unser Herz oder das Blut in unseren Adern. Und wir kommen auch drauf, dass diese vielen Gedanken erstens ziemlich repetitiv und zweitens nicht besonders originell sind.

Die Geistesklarheit hingegen, die sich nach und nach in der Meditation einstellt, gilt es, zusammen mit dem Sitzen von ganzem Herzen, zu kultivieren. Sobald wir die Vorgänge mit Begriffen und Vorstellungen belegen, haben wir uns von ihnen bereits entfernt. Letztlich geht es darum, zur Wirklichkeit jenseits der Begriffe vorzudringen.

Harald: Was ist schlecht an Vorstellungen, die wir uns von uns selbst und der Wirklichkeit so machen?

Romana: Es sind Stories, die wir uns selbst erzählen, und nicht die Wirklichkeit, ja, sie verbauen uns den Blick auf sie. Im Zen wirst Du permanent angehalten, Dich von diesen Stories zu lösen, sie an Dir abgleiten zu lassen, das „Drama“ – die Selbstinszenierungen – aus Deinem Leben rauszunehmen. Im Yoga ist das übrigens genauso: Denk an Ahamkara, den „Ich-Macher“.

Wir sind ständig von Vorstellungen beherrscht, die wir uns selbst über unser Leben machen, so in der Art wie: Mein Leben wird dann gut sein, wenn dies und das drinnen ist (in der Yoga-Philosophie: Raga) und das und jenes draußen (Dvesa). Wenn ich dies erreicht habe und jenes beendet. Und dann setzen wir alles daran, das umzusetzen. Dabei merken wir gar nicht, dass wir uns einen Rahmen nach dem anderen zusammenbasteln.

Im Zen werden wir darauf gestossen, dass das bloße Rahmen und Vorstellungen sind, die uns einschränken, und nicht die Wirklichkeit. Es geht um die Bereitschaft, jeden Moment anzunehmen, wie er sich präsentiert, die Wirklichkeit anzunehmen, wie sie sich darstellt. Wenn wir unseren „grip“, unseren Zugriff auf die Wirklichkeit, lockern und den Rahmen weglassen, spüren wir sie plötzlich ganz uneingeschränkt.

Dieser Cinemascope-Effekt wirkt sich nicht nur geistig aus, sondern geradezu auch körperlich in dem Sinne, dass ich erkenne: Ich bin nicht auf diese körperliche Form beschränkt, sondern Teil der mich umgebenden Wirklichkeit, ja der Welt. Ich hatte beim Meditieren und beim Rezitieren der Sutras dieses Gefühl von Weite, das Gefühl, mich mit dem Kosmos zu verbinden. Das ist Samadhi. Es ist im Grunde immer da, sobald wir den „grip“ unserer Vorstellungen lösen.

Interessanterweise brauchen wir aber genau wieder einen Rahmen, um den „grip“ aufzulösen, nämlich den der Praxis: das Sitzen und die vielen zeremoniellen Handlungen beim Zen, die vielen Asanas beim Ashtanga Yoga. Wir nehmen Haltung – bzw. Haltungen – ein, um uns zu befreien.

Harald: Dementsprechend strikt muss der Tagesablauf gewesen sein.

Romana: Genau. Die Morgenglocke wurde um 4.25 Uhr geläutet, um 5 Uhr folgten 40 Minuten Zazen, danach 10 Minuten Kinhin, die Gehmeditation mit ihrem Takt aus einatmen Fuß heben, ausatmen Fuß senken. Wieder gefolgt von 40 Minuten Zazen. Danach das Zeremoniell vor dem Frühstück und um 7 Uhr Frühstück. Von 9.10 bis 10.30 Uhr gab Reb seinen Dharma-Talk, seinen Vortrag über die Lehre. Nach einer weiteren Sitzperiode gab es Mittagessen.

Nachmittags wurde gearbeitet. Ich hatte jeden Tag etwas anderes zu tun, mal das Zendo putzen, mal in der Küche mithelfen, Geschirr abwaschen. Im Garten musste ich tiefe, schmale Löcher für Aufsteller graben, und ich könnte nicht sagen, dass mir das leichtgefallen ist.

Am Abend gab es noch drei weitere Zazen-Sessionen, und um 9 Uhr war Nachtruhe. Die Sitzperioden dauerten in der Regel 40, 30 bzw. 20 Minuten. In der Sesshin-Woche wurde jedoch mehr meditiert: eine Vormittags-Session von 55 Minuten, mit einer kurzen Pause, um die Beine umzulegen. Und an den Nachmittagen waren statt Arbeit drei zusätzliche je halbstündige Zazen-Sitzungen angesetzt.

Eine Eigenheit des Zen ist, dass man die Augen nur halb geschlossen hält und auf den Boden blickt. Damit wird angezeigt, dass wir uns der Außenwelt nicht verschließen – und gleichzeitig verhindert, dass wir einschlafen. Man sitzt mit dem Gesicht zur Wand, die Hände im kosmischen Mudra.

Harald: Habt ihr tatsächlich die ganze Zeit über geschwiegen?

Romana: Es war als Schweigeretreat angelegt, aber wenn bei der Arbeit eine Frage auftauchte, wurde das natürlich kurz besprochen. Auch auf nonverbaler Ebene fand Kommunikation statt, wir waren schließlich alle Teil einer Gruppe. Beim Abendessen gab es einen Tisch, an dem gesprochen wurde, und einen „silent table“. Am Sprech-Tisch wurde jetzt auch nicht gedankenlos getratscht, sondern auf achtsame, rücksichtsvolle Weise miteinander umgegangen. Trotzdem habe ich mich meistens an den Schweige-Tisch gesetzt.

Schweigen ist mir nicht schwergefallen, im Gegenteil, ich empfand es irgendwie als Erlösung. Wenn man, wie ich, ein extrovertierter Mensch ist, fühlt man allzu oft den Drang, Stille mit Worten zu füllen, um Verbindung und Verbindlichkeit zu anderen herzustellen. Von diesem Drang war ich gewissermaßen befreit.

Harald: Wie bist Du mit dem Sitzen über längere Zeiträume zurechtgekommen?

Romana: Natürlich hatte ich meine Schwierigkeiten mit der Konzentration, Gedankenketten und -geflechte, Problematiken, die hochkamen – das haben alle. Hie und da aber auch, wie bereits erwähnt, Momente der Klarheit. Die ersten Sitzperioden des Tages, in der Klarheit des frühen Morgens, waren die einfachsten. Da war die geistige Leinwand noch ganz leer und unbekritzelt. Dieses Offensein, die Unverstelltheit des geistigen Raums durch Gedanken, Begriffe, Vorstellungen – das ist ein Gefühl von durchdringender Freiheit.

Harald: Was ist Reb für ein Mensch?

Romana: Er ist liebevoll, hat aber auch Haltung. Wenn er in den Raum trat, übertrug sich seine Präsenz sofort auf alle TeilnehmerInnen: Er richtete uns auf, wir nahmen plötzlich alle Haltung an! Ich riss mich dann mehr zusammen, konzentrierte mich und hatte sogar das Gefühl, „besser“ meditieren zu können. Ich glaube, es ist die jahrzehntelange Meditationspraxis, die eine derartige Präsenz und Konzentration schafft.

Im Dokusan, dem Vieraugen-Gespräch zwischen Meister und Schüler, ging er tendenziell so vor, dass er meine Fragen nicht so ganz linear beantwortete, sondern sie gewissermaßen in ihre Bestandteile zerlegte und sie mir „remixed“ wieder zurückgab. Dadurch konnte er mir eine Art „Sutra“ – eine extrem zusammengekürzte schlagzeilenartige Weisheit zum Kontemplieren mitgeben. Eine kontemplative, nicht eingreifende Herangehensweise an Fragestellungen, die aber noch lange nach dem Gespräch „nachbeben“ kann.

Harald: Was haben Dir die Rätselworte des Zen gesagt?

Romana: Ich war vom Rezitieren der Sutras ergriffen. Verszeilen wie „The teaching of suchness is intimately transmitted by buddhas and ancestors; now you have it; preserve it well / A silver bowl filled with snow; a heron hidden in the moonlight / Taken as similar, they are not the same; not distinguished, their places are known / The meaning is not in the words, yet it responds to the inquiring impulse“ oder „When the wooden man begins to sing, the stone woman gets up dancing / It is not reached by feelings or consciousness, how could it involve deliberation?“ (aus dem Dongshan zugeschriebenen Lehrgedicht „The Jewel Mirror Samadhi“) sind von rätselhafter, berückender Schönheit, wirken aber vor allem subkutan, und sie wieder und wieder zu rezitieren erschließt eine Art kontemplatives Verständnis. Sie sprechen tiefe Wahrheiten an, auch Wahrheiten in einem selbst. Ich war oft zu Tränen gerührt.

Harald: Wie bist Du in den Rhythmus des Retreats hineingekommen?

Romana: In der ersten Woche war ich noch mitgenommen und gejetlagged. Bekam hie und da relativ unmotivierte Lach- oder Weinanfälle, konnte kaum sitzen. In der zweiten Woche kam ich dann besser hinein, wurde friedvoller.

Das Schöne am Dokusan ist, dass man in den verschiedenen Phasen des Retreats unterstützt wird. Als ich Reb in der ersten Woche darauf ansprach, wie aufgewühlt ich war, beglückwünschte er mich zu meinen Emotionen und gab er mir den Hinweis „outwardly still, inwardly moving“. Als ich dann ruhiger wurde, hatte ich meine Bedenken, nach der Rückkehr nach Wien wieder in unruhigere Fahrwasser zu kommen. Ich sagte ihm, ich hätte meine Zweifel, ob ich so viel Willenskraft aufbringen würde. Statt mir gut zuzureden, gab er mir ein hübsches Beispiel, das er an seinen Enkeln beobachtet hatte: „Wie sehen sich Kinder Fernsehserien an? Sie schauen eine Folge und wollen dann unbedingt die nächste schauen. Du sagst nein, und sie kommen Dir mit Tricks. Was sie sich nicht alles einfallen lassen! Und Du sagst, okay, schau dir noch eine an, aber dann ist Schluss. Und wenn sie die angesehen haben, geht das Ganze von vorne los!“ Auf mich bezogen, hieß das, ich könne doch ruhig auf die eine oder andere Weise probieren, wie ich es schaffe, an der Meditationspraxis und der daraus resultierenden inneren Ruhe dranzubleiben. „Willpower is there!“, sagte er.

Harald: Im Zen gibt es einen hohen Anteil an zeremoniellen und rituellen Handlungen und einen straff eingeteilten Tagesablauf – wie bist Du damit zurechtgekommen?

Romana: Gerade das habe ich als Voraussetzung für Freiheit empfunden. Durch das Rituelle kommst Du erst so richtig in den Moment. Beispiel Ōryōki, das ist die genau festgelegte Art zu essen, mit drei Schalen, zwei Stäbchen und einem Löffel. Das Ganze wird in drei Servietten verpackt, die rituell geöffnet und nach dem Essen wieder geschlossen werden. Das Essen wird auf eine bestimmte Art und Weise serviert, dazu werden die passenden Mantras rezitiert.

Im Zen soll eben auch bei so trivialen Handlungen wie der Essensaufnahme an die Leere von allem – eine der Grundannahmen des Buddhismus – erinnert werden. In dem Fall sind drei „Räder“ am Werk: der Gebende (der Servierende), der Empfänger (der Essende), und die Gabe, das Essen. Geben, empfangen, auflösen – die Prozesse des Lebens. Sie sind flüchtig, transitorisch, und daher ihrem Wesen nach „leer“.

Die Genauigkeit bei den Abläufen und die Aufmerksamkeit darauf – das alles hat mich an die Bewegungsabfolgen im Ashtanga Vinyasa erinnert, die ja ebenfalls genau festgelegt sind. Diese Getaktetheit der Abläufe erleichtert es, die volle Aufmerksamkeit auf sie zu richten.

Harald: Man kann sich mit der Philosophie des Zen rein theoretisch anfreunden – wie wichtig ist dann die Meditationspraxis?

Romana: Sehr, denn sie schafft den Rahmen, das Setting, um dem Mysterium Raum zu geben. Auch das Rituelle, Zeremonielle des Zen ist Teil dieses Settings. Es ist wie beim Yoga: Die Praxis macht’s. Und wie beim Yoga dauert es Jahre, um in eine regelmäßige, ernsthafte Praxis hineinzufinden.

Harald: Apropos Yoga. Hast Du während des Retreats Yoga geübt?

Romana: Ich habe sanft Asanas praktiziert, aber kein Ashtanga. Und dann habe ich durch gezielte Asanas versucht, Verspannungen, die vom langen Sitzen kamen – Stichwort Gesäßmuskulatur –, zu lösen. Eine der Lehren von Green Gulch: Nie wieder ohne Faszienrolle auf ein Meditations-Retreat!

Harald: Siehst Du Parallelen zwischen Zen und Yoga?

Romana: Oh ja! Beides sind Weisheitstraditionen, bei denen es letztlich um Erkenntnis und Einsicht geht; sowie um die Erfahrung der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit, was wiederum Nichtbeurteilung voraussetzt. Und beide erschließen sich erst durch die Praxis.

Harald: Wer waren die anderen TeilnehmerInnen?

Romana: Wir waren in etwa siebzig Leute, großteils Amerikaner, aber auch aus anderen Teilen der Welt. Achtzehn von ihnen leben permanent in Green Gulch, die meisten haben freie Kost und Logis sowie Mitwirkung an den spirituellen Aktivitäten im Eintausch gegen Mitarbeit vor Ort. Du merkst, dass das Menschen sind, die sich bemühen, nach den Silas, den buddhistischen Tugendregeln, zu leben. Die versuchen, einen friedvollen, (emotional) gewaltfreien, respektvollen und helfenden Umgang untereinander zu pflegen.

Mehr als die Hälfte der Anwesenden hatten eine langjährige Meditationspraxis, und ca. zehn waren mehr oder weniger neu, darunter auch ich. Aber mit dem „Beginner’s Mind“ soll man ja an die Sache herangehen. Die anderen TeilnehmerInnen haben mir immer wieder geholfen, denn am Anfang fand ich mich mit den vielen Abläufen noch nicht so gut zurecht.

Es gibt dort das Bemühen, die TeilnehmerInnen dabei zu unterstützen, dass sie sich wohlfühlen, auch wenn die Situation neu und fremd ist. Das ist übrigens ein bisschen wie in der Mysore-Klasse, wo sich die Erfahrung der Fortgeschrittenen durch das gemeinsame Üben ebenfalls unterschwellig auf die weniger Fortgeschrittenen überträgt. Es springt gewissermaßen vom einen auf den anderen über, ohne dass das verbalisiert werden müsste.

Diese Hilfestellungen geschehen mit voller Absicht: Man soll mit dem Neuen, Frischen, Unbekannten zurechtkommen und sich darin wohlfühlen, denn so bleibt man wach, bewusst, aufmerksam. Was man schon kennt, was man routiniert macht – das wird vermehrt dann wieder unbewusst. Gerade bei so ritualisierten Abläufen, wie sie im Zen vorgegeben sind, hat man ziemlich bald die Tendenz, sich zu sagen: So, jetzt kenn ich mich aus.  Genau darum geht’s aber nicht, sondern darum, bewusst und aufmerksam zu bleiben.

Harald: Was hast Du aus dem Retreat für Dich mitgenommen?

Romana: Vieles. Am Beispiel des Ensō, des Zen-Kreises: Man bringt Dir, bildlich gesprochen, bei, nicht nur das Bild im Bild – den Kreis – zu sehen, sondern auch die Leerstellen und damit das ganze Bild. Die Botschaft: Bemüh dich, praktiziere, und Du wirst etwas erkennen. Wenn nicht das große Ganze, so zumindest etwas.

Was ich noch mitgenommen habe, ist dieses Gefühl von Weite, das ich beim Meditieren und beim Rezitieren der Sutras hatte. Es beinhaltet auch, dass Du ein weites Herz für Dich selbst, aber auch für die anderen bekommst. Du bekommst Mitgefühl, für Dich und die anderen. Das ist sehr befriedend. Du bekommst auch eine gewisse Klarheit darüber, dass Du nicht sehr viel brauchst – und schon gar nicht optimale Bedingungen –, um einen befriedeten Blick aufs Leben zu werfen.

Wir versuchen diese Haltung heute genauso zu kultivieren, wie das unzählige Praktizierende seit der Entstehung des Zen und des Buddhismus getan haben. Es ist eine schöne Vorstellung, in einer so weit zurückreichenden Traditionslinie zu stehen. Shunryū Suzuki Roshi wirkte in der Sōtō-Tradition, Reb Anderson ist sein direkter Schüler. Im Zen wird immer sehr intensiv der Ahnenreihe gedacht, die Vorgänger werden benannt, aufgerufen und gewürdigt. Sie sind der Beweis, dass man hier auf Erden als „realized being“ leben kann. Damit schwingt eine gewisse Tiefe mit, die von den Ursprüngen bis zu uns heraufreicht, ja, man könnte sagen, dass Buddha und seine Nachfolger im Zen – und damit auch in unserer eigenen Zen-Praxis hier und jetzt – präsent sind.

Im Yoga gibt es übrigens eine analoge Wertschätzung der vom Lehrer zum Schüler weitergegebenen Lehrtraditionen: Parampara. Ebenso auch eine enge Beziehung zwischen den beiden. Ich erlebe es als Lehrerin jeden Tag mit den Übenden, die regelmäßig kommen: Da erkenne ich genau, wo er/sie physisch, geistig, emotional steht. Und umgekehrt genauso – man spiegelt sich im anderen.

Einmal mehr ist mir auf diesem Retreat die Bedeutung des Sangha, der Gemeinschaft, aufgegangen. Alle spirituellen Traditionen brauchen einen Sangha, um ihren spezifischen Blick auf die Welt zu kultivieren, eben weil sie abseits des Mainstreams sind. Draußen in der Welt herrschen ganz andere Werte, andere Interessen, da geht es um Konsum, Produktion, Materialismus, Macht, Geld, ums total der Außenwelt Verhaftetsein. Wenn man da mit seinen spirituellen Bedürfnissen ganz auf sich gestellt ist, kann einen das ziemlich unsicher machen. Daher ist es unendlich wichtig, sich gegenseitig zu bestärken und zu bekräftigen. Ein Pflänzchen ist leicht zunichte zu machen, aber wenn es viele sind, die sich gegenseitig schützen und nähren …

Darüber hinaus ist es gerade bei spirituellen Praktiken wie dem Buddhismus oder dem Yoga überaus wichtig, in der Gemeinschaft zu praktizieren. Allein kommt man nicht weiter, im Gegenteil, man kultiviert seine Neurosen und Schwächen geradezu. In der Gemeinschaft hingegen kommt unser „shadow self“, unsere Schattenseite, über kurz oder lang zum Vorschein und kann bearbeitet werden. Es ist wie im Kindergarten, wo man ja auch lernt, sich zu sozialisieren. Wir brauchen die Spiegelung durch die anderen.

Wir in der Yogawerkstatt versuchen ja auch, ein Sangha zu sein, ein Ort für Gleichgesinnte. Denk nur an Mysore. So zeitig aufstehen, so regelmäßig üben – normale Leute greifen sich da an den Kopf. Aber wenn Du siehst, andere schaffen das auch, dann bestärkt Dich das.

Harald: Bist Du nach Deiner Rückkehr bei der Meditationspraxis geblieben?

Romana: Nicht in dem Ausmaß, wie ich es mir vorgenommen hatte – aber doch. „You forget – you can remember!“, hat mir Reb mit auf den Weg gegeben. Mein Zeitrahmen geht so: Ich zünde ein Räucherstäbchen an, das in vierzig Minuten abbrennt. Während dieser Zeit meditiere ich, und wenn ich merke, dass der Duft vorbei ist, beende ich die Meditation, ganz ohne Wecker. – Einmal im Jahr möchte ich auf jeden Fall wieder ein intensives Retreat mitmachen, um mich im Kreis eines Sangha zu sammeln.