Sitzen und schweigen

Sascha hat letzten November an einem einmonatigen Meditations- und Schweige-Retreat der IMS (Insight Meditation Society) teilgenommen. Wie ist es ihm dabei ergangen? 

Von Harald Sager

Die IMS (Insight Meditation Society), die Mitte der siebziger Jahre von den namhaften Vipassana-Meditationslehrern Joseph Goldstein, Jack Kornfield und Sharon Salzberg gegründet worden ist, befindet sich auf einem weitläufigen waldreichen Stück Land mit etlichen Gebäuden in der Nähe von Barre, Massachusetts.

Es werden dort zwei Arten von Retreats angeboten: Jene im Retreat Center haben ein Thema, eineN VortragendeN und eine bestimmte Dauer. Das Forest Refuge hingegen ist sozusagen auf Retreat-Dauermodus geschaltet. Man kann – in einem Zeitrahmen zwischen einer Woche und einem Jahr – jederzeit einsteigen und bleiben, solange man will.

Harald: Wie geht das vor sich?

Sascha: Du wirst im Empfangsbereich begrüßt und angemeldet, man erklärt dir, wie das Retreat abläuft, du bekommst ein Zimmer zugewiesen. Du unterwirfst dich den fünf Silas, das sind buddhistische Tugendregeln (nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten, nicht lügen, keine Rauschmittel zu sich nehmen), die übrigens den Yamas ähneln, die wir aus dem Yoga kennen. Darüber hinaus bist du frei. Dann gehst du weiter, und damit startet für dich das Retreat und auch das Schweigen.

Die Gebäude – das Verwaltungs- sowie die Wohnhäuser und der Meditationsort – sind untereinander mit offenen, überdachten Gängen aus Holz verbunden. Die Dhamma-Halle, in der meditiert wird, ist ein schöner, schlichter großer Raum. Die Zimmer sind einfach ausgestattet, mit Bett, Schreibtisch, Kasten, Waschnische und Fenstern, die nach französischer Art bis an den Boden reichen. Es gibt ein Sitzkissen (Zafu) und eine Unterlage (Zabuton).

Harald: Wie hat das Programm ausgesehen?

Sascha: Wir hatten zwei Betreuer, Winnie Nazarko und Greg Scharf, die abwechselnd an zwei Abenden in der Woche Dharma-Talks zu bestimmten Themen der Meditationspraxis gaben. Weiters wurden viermal in der Woche morgens Passagen aus buddhistischen Texten vorgelesen. Diese so genannten Morning Reflections waren quasi Impulsgeber für das anschließende gemeinsame Sitzen. Geregelt waren auch die Essenszeiten zwischen 6.30 und 7.15 Uhr sowie von 12.00 bis 12.45 Uhr. Um 17.30 Uhr gab es noch Tee und Kräcker. Das waren die Zeiten, an denen man die anderen Teilnehmer traf. Ansonsten war jeder auf sich gestellt.

Harald: Gab es auch individuelle Betreuung?

Sascha: Ja, jeder der Teilnehmer, jede der Teilnehmerinnen hatte je ein Gespräch pro Woche mit Winnie und mit Greg. Diese Gespräche waren wahrscheinlich die wichtigsten Fixpunkte der Woche, weil die beiden uns durch die verschiedenen Phasen unseres Aufenthalts begleiteten und unterstützten.

Harald: Welche Fragen wurden da aufgeworfen?

Sascha: Was die TeilnehmerInnen beschäftigt hat. Ich habe zum Beispiel in der Anfangsphase die Trennung von meinen Liebsten und Nächsten und von meiner Lebenswelt daheim als schmerzlich empfunden. Das Leben, das ich geführt hatte – jetzt wo ich es nicht mehr hatte, schien es mir so bedeutend. Es war Vergangenheit, und das schmerzte mich. Winnie meinte: „Mit deinem Schmerz liegst du genau richtig. Die erste edle Wahrheit des Buddhismus ist die Erkenntnis des Leids.“ Das empfand ich als erleichternd. So habe ich davon für mich zwei Erkenntnisse mitgenommen: Das Leben, das ich führe, bewusst wertzuschätzen, und zwar noch während ich es führe und nicht erst dann, wenn ich davon getrennt bin. Und, zweitens, dass mein Unbehagen Ausdruck meiner Angst war, einen alten Zustand zu verlassen und in einen neuen einzutreten.

Winnie hat mir auch vorgeschlagen, Metta an den Beginn meiner Meditationspraxis zu setzen. Metta ist die „liebende Güte“, die im Kern den Wunsch ausdrückt, dass alle Lebewesen frei von Leid und glücklich sein mögen. Das geschieht beispielsweise durch Singen, aber vor allem durch gezielte Meditation. Du gibst deinen Wunsch im Geiste weiter: zuerst an dich selbst, dann an deine Liebsten und Nächsten, dann an dein weiteres Umfeld unter ausdrücklicher Einbeziehung all jener, mit denen es nicht so g’schmeidig läuft, und weiter bis zu allen lebenden Wesen.

Greg seinerseits hatte einen etwas anderen Ansatz zu meiner Story von der Trennung von meinen Liebsten und dass ich sie vermisse und darunter leide und so weiter: Er ging überhaupt nicht darauf ein, sondern befragte mich bloß zu meiner Symptomatik: Was fühlst du genau? Wo fühlst du es? Wie tritt es auf? Er reduzierte das Ganze auf physiologische und emotionale Vorgänge. Er ging auf meine Trennungs- und Leidensgeschichte absichtlich nicht ein, um sie nicht mit mir fortzuspinnen und mich dadurch zu bestärken, mich weiter damit zu identifizieren. So entlarvte er sie als Story, die ich mir selbst zurechtstrickte. Die yogische Philosophie kennt das übrigens auch unter der Bezeichnung Ahamkara: Das ist der „Ich-Macher“ bzw. das konstruierte Ich-Bewusstsein einschließlich all dessen, als was ich mich sehe und identifiziere. Lauter Stories!

Greg hat mir auch einmal einen guten praktischen Tipp gegeben. Ich sagte ihm, ich sitze gut in der Meditation, aber ich schweife gedanklich ab. Er meinte, ich sollte doch mal versuchen, meinen Geist zurückzuholen, indem ich ein „Dreieck“ der Wahrnehmung abrufe, indem ich wechselweise das Sitzen, die Hände und das Hören fokussiere: Zunächst sollte ich mich auf das Sitzen konzentrieren und dabei nicht denken: „Ich sitze“, sondern „Sitzen“. Dann Konzentration auf die Hände, ihre Wärme, ihren Druck. Zuletzt: Was höre ich? Wichtig war, den Fokus auf diese drei Punkte zu halten, ohne meine Eindrücke weiter zu verfolgen und zu analysieren. – Interessanterweise eine ähnliche Konzentrationstechnik wie das Halten der Konzentration beim Üben von Asanas, das ebenfalls auf drei Ebenen (Asana, Atmung/Bandhas, Drishti) stattfindet.

Harald: Wie war dein eigener Tagesablauf?

Sascha: Bei dieser Art von Retreat gibt es keinen Stundenplan in dem Sinne, dass man da und da mittun muss. An diese Freiheit von äußeren Zwängen im Tagesablauf muss man sich erst gewöhnen. Daher habe ich mir meine eigene daily routinegeschaffen, und die sah so aus: Um 4 Uhr stand ich auf, trank etwas heißen Zitronensaft, danach eine dreiviertel Stunde Sitzen. Dann eine halbe bis dreiviertel Stunde sanfte Asanas. Um 6 Uhr folgte Metta-Singen in der Dhamma-Halle. Um halb sieben war Frühstück, danach räumte ich mein Zimmer auf und meditierte ein wenig. Von viertel neun bis halb zehn gab es die Morning Reflections und eine weitere Sitzperiode in der Dhamma-Halle, danach machte ich Gehmeditation – wofür es eigene überdachte, aber offene Gänge längs der Gebäude gibt – und anschließend Sitzmeditation in meinem Zimmer. Den Gong, der uns zum Mittagessen rief, empfand ich als eine Art Belohnung. Das (vegetarische) Essen war übrigens köstlich, und es gab immer auch die Optionen glutenfrei sowie vegan.

Eine Stunde am Tag hatte jeder mitzuhelfen, sei es, das Geschirr zu waschen, die Klos zu putzen, aufzukehren, den Tisch anzurichten usw. – im Yoga sagen wir Karma Yoga dazu. Ich war zum Tellerwaschen nach dem Mittagessen eingeteilt. Ich fand das übrigens gar nicht lästig, sondern hatte sogar ein Gefühl der Einheit, des Gleichklangs mit meiner Arbeit mit Schwamm und Töpfen. Danach machte ich einen Spaziergang, gefolgt von weiteren Sitzperioden auf meinem Zimmer. Am besten kam ich übrigens in der Morgen- und der Abenddämmerung in die Meditation hinein. Bald nach dem Abendsnack, so gegen 20 Uhr, legte ich mich hin. Lesen wird bei dieser Art von Retreat nicht empfohlen, der Gebrauch von Laptop, Handy usw. schon gar nicht: Man soll ja auf sich selbst zurückgeworfen sein, sich durch nichts von der Beschäftigung mit sich selbst ablenken lassen.

Harald: Wie hat das Setting der Stille, der Unabgelenktheit des Retreats auf dich gewirkt?

Sascha: Es waren verschiedene Phasen. Wenn die Außenreize geringer sind, wie das im Retreat der Fall war, kommt man „runter“ und in einen ganz eigenen verlangsamten Modus. Aber das dauert ein paar Tage. Anfangs war ich noch eher unruhig, müde, hatte viele Gedanken. Irgendwann kam der Punkt, wo ich den Eindruck hatte, ja, jetzt lichtet sich der Schleier, und ich sehe durch die Gedankenschichten hindurch.

Aber dann erkannte ich, dass der Geist die lästige Eigenschaft hat, ständig alles benennen zu müssen, um es zu erkennen, zu verstehen, zu kontrollieren und es sich gemütlich zu machen. Mein Geist passte  sich schnell an die neue Situation, den langsameren Modus, an, und suchte sich eine neue Routine, um mir Sicherheit, Kontrolle und Komfort vorzugaukeln. Und schon war ich wieder voll damit beschäftigt, eine gute Zeit zu haben, einen schönen Spaziergang zu machen, mich aufs Essen zu freuen, dann zu arbeiten usw. – Alles schön und gut, nur, so verhindern wir, dass wir die Dinge in ihrem wahren Licht, in ihrem So-Sein wahrnehmen. Es braucht eine Weile, ehe man soweit ist, still in der Gegenwart zu verharren.

Das Setting des Retreats, die Stille, die auf dem Gelände herrschte, hatte etwas leicht Unheimliches. Die Gebäude und Gänge sind absichtlich so verschachtelt angelegt worden, dass der Schall sich nicht ungehindert ausbreiten kann. Es war so still, dass man deutlich seinen Atem hörte.

Das Schöne an diesem völlig unabgelenkten Setting war, dass ich meine eigenen Stimmungen, Gemütszustände, Gefühle, Gedanken dabei beobachten konnte, wie sie entstanden, sich ausbreiteten, abebbten, sich ablösten. Dazu gibt es ein recht anschauliches Bild: So wie das Wetter ständig wechselt, aber der Himmel gleich bleibt, so auch die Stimmungen vor dem Hintergrund des Geistes, und die Kunst ist, sich mit seinen Stimmungen nicht zu identifizieren.

Man kann buchstäblich Zeuge seines eigenen Geistes bei der Arbeit sein, und wenn man sich dessen bewusst ist, ist man auch nicht mehr Opfer seiner Stimmungen bzw. hilflos seinem „direkten“ Karma – d.h. der Summe seiner Taten und Gedanken – ausgeliefert, sondern stellt fest, dass man in jedem Moment die Möglichkeit hat, sich so oder so zu entscheiden. Greg sagte mir einmal, „Hier ist alles so perfekt, dass du, wenn du dich elend fühlst, genau weißt, dass du das Elend selbst verursacht hast!“.

Eine Stimmung, die ich im Laufe des Retreats, bei dem ja die Aktivitäten radikal heruntergefahren wurden, immer wieder hatte, war Ungeduld. Ich hatte immer gedacht, Ungeduld und Rastlosigkeit würden mir Energie geben, mich vorwärtstreiben. Aber eigentlich sind das eher unangenehme Gefühlszustände, und man kann schließlich auch von einer unaufgeregten Stimmung her Energie bekommen.

Eine der Erkenntnisse für mich war, dass es wichtig ist, alles, was da geistig kommt, in die Betrachtung aufzunehmen. Das heißt, nicht nur mich mit „edlen“ Gedanken zu beschäftigen, weil ich ja auf einem Retreat bin, und alles andere auszuklammern. Sondern alles zum Gegenstand meiner Untersuchung zu machen. Ich kann nicht kontrollieren, was ich denke, ich kann Mara – im Buddhismus die personifizierten Versuchungen, die Verführungen des Geistes – nicht verhindern oder ausweichen. Aber ich kann mich ihm stellen.

Harald: Ist dir das Schweigen leichtgefallen?

Sascha: Ja, ich empfand es sogar als Erleichterung, ich bin ja ohnehin nicht so der extrovertierte Typ. Aber Schweigen allein ist noch nicht die Lösung, man ist da sogar noch stärker in seinen Gedanken als normalerweise. Das Reden mit dem Mund hört auf, das Reden im Kopf geht weiter. Und dann ist da auch noch der Impuls, mit den anderen in Blickkontakt zu treten. Zum Schweigen gehört aber dazu, auch diese Interaktion zu unterlassen, sodass ich beispielsweise beim Spazierengehen den Blick senkte, wenn ich jemandem begegnete. Eine gewisse Disziplin gehört schon dazu. Wenn du eine Weile in dem Schweigemodus drinnen bist und dann tatsächlich einmal jemanden direkt anschaust, siehst du in seinen Augen deine eigene Stille und Tiefe. Das ist bedeutsam.

Harald: Wie hast du die anderen TeilnehmerInnen erlebt, was waren das für Leute?

Sascha: Das Forest Refuge ist für knapp 40 Personen ausgelegt, und es war ca. halb belegt.  Tendenziell, würde ich sagen, waren es achtsame Leute, die ein Bewusstsein dafür hatten, dass man zwar nicht untereinander redete, aber doch miteinander lebte, aufeinander Rücksicht nahm, sich gegenseitig half. Sie mussten Meditationserfahrung haben, denn das ist Voraussetzung, um im Forest Refuge aufgenommen zu werden.

Tendenziell waren es auch eher Ältere, was auch daran liegen mag, dass so ein Monats-Retreat, wie ich es gemacht habe, mindestens 2.300 $ kostet. Für junge Leute ist das ziemlich viel Geld. Ein Blick in den Shop, wo man sich Dinge des täglichen Bedarfs besorgen konnte, hätte genügt, um über die Altersstruktur Bescheid zu wissen: viele Hämorrhoidalsalben, viel Preiselbeersaft (gegen Blasenentzündung)! Tatsächlich waren gut zwölf der knapp 20 TeilnehmerInnen in ihren späten Sechzigern, und die meisten saßen während der gemeinsamen Meditationen auf Stühlen. Trotzdem, ich fand es bewundernswert, dass sie ihre Zeit dafür nützen, sich mit Introspektion zu beschäftigen.

Das Forest Refuge ist ja, wie gesagt, ein permanentes Retreat, d.h. die Leute steigen zu selbstgewählten Zeitpunkten ein und aus. Dadurch hast du kaum Gelegenheit, dich an die Teilnehmer zu gewöhnen, sie ,,kennen zu lernen” usw. Kaum hast du dir das Gesicht von jemandem gemerkt, der neben dir meditiert hat, kann er am nächsten Tag auch schon wieder weg sein. Ich fand das einen recht guten Anschauungsunterricht für die Impermanenz, die ja eines der großen Themen des Buddhismus ist.

Harald: Wie hast du nach dem Forest Refuge den Wechsel zurück ins „normale“ Leben empfunden?

Sascha: Ich war mit einem Freund da, mit dem ich während des Monats natürlich nicht sprach. Aber unsere Betreuer empfahlen uns, am letzten Tag vor der Abreise einen gemeinsamen Spaziergang zu machen und uns in achtsamer, behutsamer Weise auszutauschen. Man nennt das „mindful talking“, und es diente dazu, unsere Energieniveaus langsam wieder anzuheben und auf jenes draußen in der Welt anzugleichen.