Intensivtraining Abschlussarbeit von Christian Feist

„Schau mer mal, na seh mer schon“
Entfremdung, Bedingtheit, Yoga.
Warum ich den Yoga-Weg gehe.
(oder: Ein Aufsatz auch für alle, die gerne wissen wollen warum ich täglich Yoga übe)

Christian Feist, im Rahmen des Intensivtrainings 2019 in der Yogawerkstatt.

 

1. Entfremdung
Das Wort Entfremdung ist mir zum ersten Mal im Religionsunterricht mit – wahrscheinlich 14 Jahren begegnet. Die damalige Diskussion ging um den Irakkrieg, Drohnen wurden erstmals breit zur Kriegsführung eingesetzt und das entfremdete töten der Drohnenpiloten, die damals auch in Deutschland saßen und sitzen war unser Thema. Aber auch abseits dieser doch recht extremen und tragischen Thematik hat mich das Wort und das Thema Entfremdung nicht mehr losgelassen. Seit ich mich zum ersten Mal damit beschäftigt habe hat es mich begleitet, mal vordergründiger, mal hintergründiger, aber es war ein stetiger Denkansatz in meinem Bewusstsein.
Kein Wunder, das Konzept Entfremdung begleitet den denkenden Menschen bereits sehr lange. Schon in der griechischen Antike beschäftigt sich Aristoteles mit der Entfremdung, vor allem in dem er einen Gegenpol, die σχολή – also grob übersetzt die „Muse“ festmacht. Darunter versteht er, ganz einfach ausgedrückt, all jene Dinge, die ihren Zweck in sich selbst haben, also beispielsweise Kunst, Musik oder das Philosophieren an und für sich im Gegensatz zu den Dingen, die der Mensch ausübt, weil sie einen Zweck erfüllen – das Arbeiten um sich etwas kaufen zu können beispielsweise. Ein Gedanke, der heute nachvollziehbarer denn je erscheint, wenn man den vorherrschenden Turbo-Kapitalismus betrachtet: entfremdet ist also der Mensch, der arbeitet um zu konsumieren und das Rad der Entfremdung weiter andreht, statt eins mit sich selbst, beziehungsweise seiner Arbeit zu sein. Im Yoga könnte man Entfremdung als den Gegenentwurf zu Samadhi, dem achten Glied des Asthanga-Yoga nach Patañjali darlegen.
Im 2. Kapitel der Bhagavad-Gita fragt Arjuna seinen Lehrer Krishna nach einer Definition des Begriffes Samadhi. Dieser antwortet ihm:
rjuna uvāca |
sthita-prajñasya kā bhāṣā samādhi-sthasya keśava |
sthita-dhīḥ kiṃ prabhāṣeta kim āsīta vrajeta kim || 2:54 ||
Arjuna sprach —
Was ist die Beschreibung eines in Weisheit Gefestigten, eines im Samādhi Gegründeten, Krishna? Ein in spiritueller Einsicht Gefestigter, wie würde er sprechen, wie würde er verweilen, wie würde er sich bewegen?
śrī-bhagavān uvāca |
prajahāti yadā kāmān sarvān pārtha mano-gatān |
ātmany evātmanā tuṣṭaḥ sthita-prajñas tadocyate || 2:55 ||

Der Herrliche sprach —
Wenn jemand sich von allen ins Gemüt gegangenen Begierden befreit und allein schon in sich selbst durch sich selbst zufrieden ist, dann wird er von gefestigter Weisheit genannt.

Jemand, der also in sich selbst und durch sich selbst zufrieden ist, kann in Samadhi verweilen – kurz gesagt, jemand der nicht von sich selbst und der Welt entfremdet ist.

Patañjali schreibt in den Yoga-Sutras ebenfalls über diesen Zustand und sagt praktischerweise auch gleich, was der Weg ist diesen Zustand zu erreichen:

योगिश्चत्तवृित्तिनरोधः ॥२॥
yogaś-citta-vr̥ tti-nirodhaḥ ॥2॥
Im Zustand des Yoga sind alle Trübungen (Vritti), die im Wandelbaren des Menschen (Chitta) bestehen können, aufgelöst. ||2||

तदा द्रष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम् ॥३॥
tadā draṣṭuḥ svarūpe-‚vasthānam ॥3॥
Dann ruht das wahre Selbst (Drashtu) in der Erkenntnis seiner eigenen Natur. ||3||

Wenn wir unsere Chitta Vrittis beruhigen können, dann ruht das wahre Selbst also in der Erkenntnis seiner eigenen Natur – auch das könnte man als Gegenentwurf zur Entfremdung deuten.

Warum aber befinden wir uns überhaupt so oft in einem entfremdeten Zustand von uns selbst, von der Natur, von anderen Menschen und von der Verbundenheit aller Dinge und Wesen? Warum ist ständig Bewegung (Vritti) in unserem Geist oder Bewusstsein (Chitta)? Eine von wahrscheinlich vielen möglichen Antworten darauf habe ich knapp 15 Jahre nach der Entdeckung des Begriffes der Entfremdung in einem weiteren Begriff entdeckt, auf den ich in Stephen Batchelors Buch „Mit dem Bösen leben“ gestoßen bin: Bedingtheit.

 

2. Bedingtheit
Der Begriff „Bedingtheit“ ist Stephen Batchelors sehr unkomplizierte und deswegen so gut verständliche Übersetzung des buddhistischen Konzepts paticasmuppada (oft auch übersetzt als abhängiges Entstehen). Stephen Batchelor beschreibt das Konzept so: „Was immer bedingt ist, dessen Existenz hängt von etwas anderem ab. Als solches müsste es nicht geschehen sein. Denn hätte sich eine der Bedingungen nicht materialisiert, wäre etwas anderes entstanden.“
Aua! Das schmerzt ganz schön beim Lesen, denn in diesem einfachen Satz steckt die tiefe Wahrheit, dass wir selbst gar nicht so wichtig sind, wie wir immer denken. Der moderne Mensch hält sich selbst nämlich für alles andere als ersetzlich, im Gegenteil, wir glauben stets, immer und absolut Notwendig zu sein. Notwendigkeit ist im Übrigen der von Stephen Batchelor definierte Gegenbegriff zur Bedingtheit „Das Gegenteil von Bedingtheit ist Notwendigkeit. Ganz gleich wie sehr mir mein menschliches Dasein als kurzlebig oder unbedeutend erscheinen mag, ich kann die intuitive Überzeugung nicht abschütteln dass meine Existenz im Spiel der Dinge letztendlich notwendig ist.“
Der Mensch hält sich ständig für notwendig, für individuell, einzigartig, die Welt im innersten zusammenhaltend und unersetzbar – und davon nehme ich mich selbst nicht aus.
Eine Welt, ganz ohne Christian Feist? Unvorstellbar!
Tief in mir spüre ich aber, dass es bei knapp 10 Milliarden Menschen und der absurd geringen Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet das Erbgut meiner Mutter mit dem meines Vaters verschmolzen ist, eher etwas unwahrscheinlich ist, dass die Welt ohne mir nicht mehr funktioniert.
Ganz intuitiv wird das auch klar, wenn man in einer wolkenlosen Nacht zum Himmel schaut und neben der Faszination und dem Erfülltsein von der Schönheit der Natur doch irgendwo in der Bauchgegend einen stechenden Schmerz spürt. Man bekommt einen winzigen Einblick in die überwältigende Größe des Universums und die Vergänglichkeit aller Dinge – so weiß man doch, dass es einen Großteil der Sterne die man erblickt gar nicht mehr gibt, weil das Licht länger braucht, um unseren Planeten zu erreichen als diese Sterne überhaupt existieren.
Sterne explodieren oder implodieren irgendwann. Ein solcher Stern ist unsere Sonne. Die Energiequelle, die Leben auf der Erde und damit auch jeden einzelnen von uns erst möglich

macht – und auch dieser Stern, unsere Sonne, hat ein Ablaufdatum. Irgendwann wird sie untergehen und damit auch Leben auf der Erde unmöglich machen. Was von der Sonne dann übrig bleibt ist im übrigen, betrachtet man es im kleinsten der bekannten Dinge, dasselbe, was von uns übrig bleibt: Atome, Elektronen, Neutronen, Positronen. Die Bausteine, aus denen die Sonne besteht, sind im Grunde dieselben, aus denen auch wir Menschen sind, nur anders (und zugegebenerweise sehr komplex) zusammengesetzt. Irrer Gedanke oder?

Der Schmerz aber, den ich spüre, liegt in eben dieser Vergänglichkeit begründet. Alles, und auch ich selbst, wird irgendwann sterben, zerfallen und zu einem anderen Wesen oder Ding wieder zusammengebaut werden. Energie kann nämlich weder laut Buddhismus noch laut den westlichen Grundgesetzen der Physik verloren gehen.

Man ist also gar nicht so besonders wie man denkt, sondern eben recht einfach zu ersetzen. Entfremdung hilft ganz gut, dieses Konzept zu vergessen und den Schmerz der eigenen Bedingtheit zu betäuben.
Dabei muss das nicht immer Konsum von Dingen oder von Getränken sein, auch Konzepte und Ideen von sich selbst, Vorstellungen und Religionen können den Kreislauf der Entfremdung antreiben.

Für mich persönlich waren und sind es immer mehr die Konzepte und Vorstellungen von mir selbst. Wenn ich mich selbst als Lebemenschen, als Extremsportler, als Survivalkönig, als Dr. House in echt definiere, dann schaffe ich es ganz gut, ein so starkes Konzept über mein sehr bedingtes Selbst zu legen, dass mir dessen Notwendigkeit mehr als nur einleuchtet: Es erscheint mir ganz und gar als natürlichste Sache der Welt.

Was mühevoll und schwer erscheint, ist für mich dann leicht zu erreichen, weil die gar nicht bewusst wahrgenommene Angst vor der eigenen Bedingtheit genug Energie produziert, jedem Konzept, das mein Ego von mir selbst hat, gerecht zu werden.

 

3. Yoga
Jetzt kommt der dritte Begriff. Das Yoga, das weder die Bedingtheit noch die Angst vor der Vergänglichkeit beseitigen kann und trotzdem so hilfreich ist, um mit der eigenen Entfremdung umzugehen. Schon Pataanjalli definierte in den Yoga-Sutras Samadhi als „Ziel“ des Yoga-Weges. Samadhi kann man, wie auch in Kapitel 1 schon besprochen, durchaus als Gegenentwurf zur eigenen Entfremdung auslegen: Eins-Werden, Union; mit sich selbst, mit der Natur, mit dem Universum, aber auch mit den eigenen Emotionen und Ängsten und mit der eigenen Vergänglichkeit. Um Eins-Zu-Werden und wahre Union zu leben, muss man auch akzeptieren, dass alles miteinander verbunden ist, beziehungsweise aus denselben Bausteinen besteht und mit derselben Energie erzeugt wurde. Erkennt man dies, kann man auch die eigene Bedingtheit sehen und beginnen, sich aus dem klammernden Griff der Notwendigkeit, die uns unser Ego einredet, zu befreien. Yoga bietet mir eine Vielzahl von Hilfsmitteln, diese Erkenntnis zu erlangen. Das wohl prominenteste Hilfsmittel sind die Asanas, also die Körperübungen, die gerade in unserer heutigen, reizüberfluteten Welt ein guter Weg sind, um anzufangen den Geist zur Ruhe zu bringen, damit er sich nach innen richten kann.

Das regelmäßige formelle Üben von Yoga-Asanas schult den Geist zu beobachten: Wie fühlt mein Körper sich an, wie geht es mir, was denke ich gerade, warum denke ich es gerade? Darüber hinaus lehrt es einen Abstand oder eine Beobachterposition zu all dem, was da gerade vor sich geht einzunehmen. So kann man auch erkennen, wann man gerade auf der Flucht vor sich selbst ist – und warum.

Dabei geht es nicht darum, Gefühle oder Emotionen, also zum Beispiel die Angst vor der Vergänglichkeit, loszuwerden oder umzuändern, sondern sie einfach wahrzunehmen. Idealerweise öffnet man mit den Yoga-Asanas also nicht (nur) die Hüften, sondern vor allem auch die Ohren, um sich selbst wieder besser zuzuhören.

Im täglichen Üben, sei es durch Körperübungen, durch Atembeobachten und -kontrollieren durch Meditation oder durch bewusstes, liebevolles Handeln und Umgehen mit sich selbst, erkennt man auch, dass Körper und Geist nicht voneinander getrennt sind, sondern der eine den anderen bedingt.

Yoga bringt mir also bei, all das, was da kommt und aufkommt, einfach mal zu beobachten. Auch in meiner bayerischen Heimat gibt es diesen lebensphilosophischen Ansatz. Man sagt dort: „Schau mer mal, na seh mer schon.“
Genau und immer wieder hinzuschauen und zu erforschen, bedeutet nämlich auch, nicht mehr vor sich selbst, vor der Welt und dem Universum und seinen Bedingtheiten davonzulaufen, sondern sie zu umarmen und anzunehmen –vielleicht ist das der einzige Weg aus der Entfremdung.