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doris harder
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Artikel von Mike Kauschke, Chefredaktuer beim Magazin „Evolve“, zum Thema Resilienz
BURNOUT, RESILIENZ UND TRANSFORMATION
Stärke aus Verbundenheit
Was macht uns innerlich stark? Warum werden Menschen von Schicksalsschlägen für immer gezeichnet, während andere wieder den Mut zum Leben finden? Eine Spurensuche im Umkreis von Resilienz, Salutogenese und Weisheit.

Die Diagnose Burnout ist momentan allgegenwärtig. In unserer immer schneller werdenden Welt sind wir mit vielen Stressauslösern konfrontiert: ständig steigende Anforderungen am Arbeitsplatz; Angst davor, ihn zu verlieren; die Informationsflut und die permanente Erreichbarkeit durch Mobiltelefone und Internet; der Spagat zwischen Kindererziehung und Karriere – und als Hintergrundrauschen die Krisen in der Finanzwelt, der Ökologie und Politik, die uns ständig begleiten. All das kann uns emotional so in die Enge treiben, dass unsere innere Kraft versiegt und wir ausbrennen.
Die Idee der Resilienz oder psychischen Widerstandskraft scheint einen Ausweg aus diesem Dilemma zu ermöglichen. Längst beschäftigt sich auch die Wissenschaft mit dem Thema, Ratgeber für mehr psychische Stabilität werden zu Bestsellern, Seminare zu Resilienz als Burnout-Prophylaxe sind ausgebucht. Dabei werden oft Methoden aus der Psychologie oder auch Achtsamkeitsübungen
angewendet, die Menschen eine innere Zentrierung entwickeln lassen. Aber geht es hier eigentlich nur um ein Problem auf der individuellen, persönlichen Ebene? Oder zeigt sich in den steigenden Burnout-Zahlen nicht auch eine tiefere Misere unserer Kultur? Der Soziologe Hartmut Rosa stellt als Folge der ständigen Beschleunigung eine zunehmende Entfremdung von uns selbst und der Welt fest. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht von einer „Müdigkeitsgesellschaft“ und sieht Burnout und Depression als Krankheiten unserer Zeit. Es scheint, als könnten wir mit der Komplexität der Welt nicht mehr mithalten. Und obwohl es sicher viele hilfreiche Methoden gibt, scheint eine radikalere Umorientierung nötig. Worin diese bestehen kann, zeigt sich vielleicht, wenn wir die Resilienz, unsere innere Stärke, bis zu ihrer Quelle zurückverfolgen, die wiederum unser ganzes Sein in der Welt verwandeln kann.

Gestalter, nicht Opfer

Als Pionierin der Resilienzforschung gilt die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner. In den 70er Jahren führte sie eine Langzeitstudie zu der Frage durch, wie sich Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, zu Erwachsenen entwickeln. Die Eltern der Kinder waren zum Teil psychisch auffällig, alkoholkrank, arbeitslos und/oder arm. Unerwartet bei ihren Untersuchungen war für Werner, dass ein Drittel dieser Kinder sich trotz dieser schwierigen Erfahrungen in der Kindheit normal entwickelte. Sie schlussfolgerte daraus, dass diese Kinder über besonders starke psychologische Widerstandskräfte verfügten. Werner unterschied drei Aspekte, durch die diese Kinder trotz allem gesund heranwachsen konnten: Persönliche Faktoren wie ein positives Selbstkonzept, eine unterstützende Beziehung zu mindestens einem emotional stabilen Familienmitglied und eine Gemeinschaft oder eine Gruppe Gleichaltriger, in der sich das Kind aufgehoben fühlt.
Seit diesen grundlegenden Untersuchungen von Werner hat sich das Feld der Resilienzforschung rasant entwickelt. Die American Psychological Association hat eine zehn Punkte zählende „Road to Resilience“ formuliert, die neben der Pflege von Beziehungen vor allem eine zentrale Haltung charakterisiert: Das Selbstvertrauen, uns auf die Möglichkeiten der Veränderung zu fokussieren, die sich aus einer schwierigen Situation ergeben. Diese Fähigkeit wird als „Kontrollüberzeugung“ bezeichnet. Toni Faltermaier vom Institut für Psychologie der Universität Flensburg erklärt: „Wenn wir diese Kontrollüberzeugung besitzen, sehen wir uns eher als Gestalter unseres Schicksals und weniger als Opfer der Ereignisse.“ Ein weiterer Faktor ist unsere emotionale Intelligenz, ein Begriff, der durch die Arbeit von Daniel Goleman bekannt wurde und darauf verweist, dass wir unsere Emotionen einfach wahrnehmen können, ohne sie zu dramatisieren oder zu verharmlosen. Zudem sind wir in der Lage, sie positiv zu beeinflussen. Wir können uns zum Beispiel bei Angstgefühlen beruhigen oder aus unseren Emotionen bewusst Handlungen folgen lassen, die unseren eigenen Werten und Zielen förderlich sind.
Interessanterweise konnte in einer Studie mit Witwen herausgefunden werden, das sich diejenigen Frauen als besonders resilient zeigten, die starke Emotionen zulassen konnten – sowohl Gefühle der Trauer wie auch Gefühle des inneren Friedens und der Akzeptanz des Schicksalsschlages. Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass ein wichtiger Faktor für Resilienz die „emotionale Komplexität“ ist, die Fähigkeit, während einer Stresssituation verschiedene starke Emotionen zu erfahren, ohne dabei von ihnen vereinnahmt zu werden.
Wichtig für die Fähigkeit emotionaler Komplexität scheint auch die richtige Verbindung von Denken und Fühlen zu sein. Einem zentralen Punkt der „Road to Resilience“ gemäß ist dabei eine langfristige Perspektive hilfreich, in der die momentanen Schwierigkeiten in einem größeren Kontext gesehen werden können. Hier bildet also die rationale Fähigkeit, das eigene Leben als ein sinnvolles und gestaltbares Ganzes zu sehen einen Kontext für zunächst überwältigend scheinende Emotionen.
Damit wird auch deutlich, dass für Resilienz ein gewisser innerer Abstand zum emotionalen Erleben unterstützend ist. Diese Fähigkeit zur Distanzierung lässt sich durch Achtsamkeitsübungen und Meditation schulen. Wir erfahren Gedanken und Gefühle, ihr Kommen und Gehen, sind aber nicht unauflösbar in sie verstrickt. Meditatives Bewusstsein ist einerseits ein neutrales Beobachten, lässt andererseits aber auch positive Gefühle in uns erwachen, wenn wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit von den Inhalten des Bewusstseins – zum Beispiel Gedanken, Emotionen, Erinnerungen – zum reinen Gewahrsein lenken. Diese Freiheit von Gedanken und Emotionen „fühlt sich gut an“ und bringt uns in Verbindung mit einer inneren Freude und Zufriedenheit, die zu einer tiefen Ressource in stressvollen Situationen werden kann.
Diese psychische Erleichterung bildet allerdings nicht das eigentliche Ziel der meditativen Übungen. Vielmehr geht es dabei um den Kontakt mit einer existenziellen Sphäre in uns, in der unsere Trennung vom Ganzen des Lebens durchlässig wird oder sich gar auflöst. Unsere Individualität im Sinne eines Getrennt-Seins von der Welt relativiert sich und wir fühlen uns aufgehoben in einem größeren Zusammenhang. Diese Sphäre einer existenziellen Zugehörigkeit und eines grundlegenden Lebensvertrauens ist die eigentliche Quelle von Resilienz. Aus ihr entsteht eines der kostbarsten Güter für uns Menschen, ohne das wir innerlich verarmen: Sinn.

Der Sinn, der uns übersteigt

Etwa zur gleichen Zeit wie Emmy Werner untersuchte der israelische Soziologe Aaron Antonovsky die Lage von Frauen, die den Holocaust überlebt hatten. Trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse war ein Drittel der Frauen psychisch stabil geblieben. In einem weiteren Schritt formulierte Antonovsky daraus seinen Ansatz der „Salutogenese“. Als entscheidend für die sogenannten Widerstandsressourcen sah er das Kohärenzgefühl an. Hierbei waren für ihn drei Aspekte wichtig: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit und Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit.
Verstehbarkeit ist die Überzeugung, dass wir die Ereignisse unseres Lebens verstehen und geordnet erfassen und beeinflussen können; Bewältigbarkeit ist das Wissen, dass wir in uns und um uns die nötigen Ressourcen finden, um diesen Ereignissen konstruktiv zu begegnen. Aber der dritte Aspekt war für Antonovsky der wichtigste. Denn ohne einen Sinn, der den Menschen zum Überleben, zum Weitermachen, zur Auseinandersetzung mit schwierigen Erfahrungen bewegt, wird ihm die innere Motivation fehlen, um auf schwierige Begebenheiten zu antworten.
In der Tat haben Menschen, die selbst unter schrecklichsten Umständen ihre Würde bewahren konnten, eine innere Widerstandsfähigkeit gezeigt, die über das menschliche Vermögen hinauszugehen scheint. Es sind Menschen wie Viktor Frankl (… trotzdem Ja zum Leben sagen), die kürzlich im Alter von 111 Jahren verstorbene Alice Herz-Sommer oder Etty Hillesum, die im Konzentrationslager schrieb: „Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten – all das ist in mir ein einziges starkes Ganzes, und ich beginne immer mehr zu begreifen, wie alles zusammenhängt, ohne es bislang jemandem erklären zu können.“
Durch solche Worte spricht ein Erspüren der Sinnhaftigkeit, in der uns tiefere Ressourcen als nur die der eigenen Psyche zugänglich scheinen. Wie in der Meditation können uns solche Erfahrungen geheimnisvoller Bedeutsamkeit in eine Verbundenheit mit etwas führen, das unser getrenntes Dasein übersteigt. Die Erfahrung von Verbundenheit und Einheit war immer eines der Anliegen mystischer Wege, weil sich darin unser Selbstgefühl erweitern kann. Wir sind dann nicht mehr nur ein persönliches Selbst, sondern unser Selbsterleben schöpft aus der ungetrennten Tiefe unseres innersten Wesens und dem sich entfaltenden Prozess des Lebens in uns, in anderen Menschen und in der Welt.

Weisheit ist lernbar

In den großen spirituellen Traditionen gilt die Erfahrung dieser existenziellen Verbundenheit als stärkste Quelle von Weisheit. Auch die wissenschaftliche Forschung nimmt sich seit einigen Jahrzehnten dieses schwer zugänglichen Bereichs an. Als einer der Pioniere der modernen Weisheitsforschung gilt Paul Bathes, der das „Berliner Weisheitsmodell“ formulierte. Für Bathes ist Weisheit ein „Expertenwissen in Bezug auf die fundamentalen Tatsachen des menschlichen Lebens“, das sich in Selbstvertrauen und Selbstreflexion, Altruismus und Empathie, in Wissen und dessen Anwendung im „richtigen Leben“ zeigt. Einen anderen Ansatz von Weisheit hat die Soziologin Monika Ardelt entwickelt. Sie schreibt der Weisheit eine kognitive (Streben nach Wahrheit), eine reflektive (Selbstreflexion) und eine affektive (Mitfühlen) Komponente zu, wobei Weisheit für sie darin besteht, diese Aspekte zu integrieren. Für Gert Scobel wiederum, Fernsehmoderator und Autor des Buches Weisheit – Wissen, was zählt, hat „Weisheit damit zu tun (…), wie wir uns in komplexen, scheinbar unlösbaren Situationen zurecht finden und diese nachhaltig steuern“.
Was die Weisheitsforschung und die Weisheitstraditionen vereint, ist die Erkenntnis, dass Weisheit sich entwickeln lässt. Allerdings nicht allein durch Methodik und die Ansammlung von Wissen oder nur durch die Zunahme an Erfahrung im Laufe des Lebens (und Alterns), sondern durch ein existenzielles Erkunden der letzten Fragen des menschlichen Daseins. Weisheit entspringt aus der Quelle des Ungetrennten in uns selbst und zeigt sich in etwas, das man vielleicht als existenzielle oder gar spirituelle Resilienz bezeichnen könnte. Sie beruht nicht nur auf Übungen des Selbstmanagements, so wertvoll und nützlich diese auch sein mögen, sondern auf der inneren Öffnung für den zugrundeliegenden Sinn unseres Daseins und für das umfassendere Ganze, in dem unser Leben sich entfaltet.
Das steigende Interesse an Resilienz könnte auch auf das Sinnvakuum zurückzuführen sein, dass viele Menschen heute spüren. Otto Scharmer zum Beispiel sieht als Grund für Burn-out und verwandte Phänomene die Trennung zwischen unserem „jetzigen Selbst“ und unserem „höheren“ oder „zukünftigen Selbst“, dem Selbst, das wir werden können. Wenn wir diese innere „Vertikalspannung“, wie Peter Sloterdijk die Divergenz zwischen beiden Polen nennt, nicht mehr spüren, fallen wir in eine innere Leere und Erschöpfung.
In einer TV-Sendung zum Thema Resilienz machte Gert Scobel vor kurzem unter großem Zuschauerinteresse auf ein Defizit aufmerksam, auf das wir seiner Überzeugung nach durch die kulturelle Förderung von Weisheit reagieren können und sollten. Resilienz, Salutogenese und Weisheit weisen darauf hin, dass der Mensch ein lernendes, ein sich entwickelndes Wesen ist. Der Weg wird dabei zum Ziel: Menschen, die in unabhängiger Selbstreflexion die Tiefe ihres eigenen Wesens ausloten, die Beziehungen zu ihren Mitmenschen und der Welt entfalten und sich einem größeren Sinn verbunden fühlen, haben Zugang zu einer Kraftquelle in sich selbst. Eine Kultur, in der diese innere Haltung gefördert würde, könnte dann selbst an Resilienz und Weisheit gewinnen und so auch bis in Wirtschaft und Politik hinein andere Strukturen und Lebensformen entwickeln, die wiederum diese Qualitäten in Individuen unterstützen. Wir müssen aber nicht darauf warten, dass dies von selbst geschieht, denn intuitiv können wir erahnen: Eine weisere Kultur beginnt in und zwischen uns.