Wer oder was ist Mysore im Stundenplan?
Was ist Mysore?
Zunächst einmal ist Mysore (ausgesprochen wie ,,my sore“, ,,mein Wehwehchen“, was immer wieder Anlass zu kleinen Scherzen gibt) eine Stadt im südindischen Bundesstaat Karnataka.
In Mysore leitete Shri K. Pattabhi Jois (1915-2009), der größte und bekannteste Verbreiter des Ashtanga Vinyasa Yoga, sein Ashtanga Yoga Research Institute (AYRI). Er entwickelte den von seinem Lehrer Shri T. Krishnamacharya übernommenen Yogastil weiter und machte daraus jenes in Serien – Leistungsstufen – gegliederte System, das heute unter dem Namen Ashtanga Vinyasa Yoga weltweit verbreitet ist und geübt wird.
Shri K. Pattabhi Jois unterrichtete so, dass die Schülerinnen* die Serie in ihrem eigenen Tempo und auf ihrem jeweiligen Niveau selbst übten und er sie da unterstützte, sie ,,adjustete“ und ihnen Hinweise gab, wo sie es benötigten. Sei es, um sie in ihren Asanas zu korrigieren, sei es, um sie tiefer in diese hineinzubringen.
Es hat sich eingebürgert, diese durch Adjustments und Erklärungen unterstützte Selbst-Praxis ,,Mysore-style“ oder kurz ,,Mysore“ zu nennen. Shri K. Pattabhi Jois folgte damit übrigens nur der Unterrichtstradition, wie sie immer schon zwischen Guru und Yogaschüler bestand: Der Schüler bekam vom Lehrer eine Aufgabe – Meditationsübungen, Pranayamatechniken, Asanas usw. – zum Üben in Selbst-Praxis (und wurde dabei von diesem unterstützt), bis er sie beherrschte; erst danach bekam er die nächste.
In den Mysore-Klassen ist das bis heute so, die Schülerinnen arbeiten sich methodisch innerhalb der Ashtanga-Serie vorwärts. Bei Problemen mit einzelnen Asanas bekommt die Schülerin von der Lehrerin Varianten bzw. Vorstufen zum Üben (,,workarounds“), bis sie zur eigentlichen Asana bereit ist.
Überspringen von Asanas gilt nicht, denn jede einzelne baut auf der vorangegangen auf und hat ihren spezifischen Platz innerhalb der Serie. Die ,,Öffnung“ des Körpers geht graduell vor sich: ein Langfrist-Projekt.
Es ist schon so, dass uns manche Asanas leichter fallen als andere, dass sie vielleicht effektvoller aussehen, und dass wir sie daher mehr mögen. Aber es würde uns nicht viel weiterhelfen, uns nur unsere Lieblings-Asanas herauszupicken und nur sie zu üben. Denn zum einen hat jede einzelne Asana, wie erwähnt, ihre Funktion innerhalb der Serie, zum anderen bieten uns gerade die mühsamen, schweren oder sonstwie unangenehmen die Gelegenheit, unsere ständigen reflexhaften Einteilungen in gut/schlecht, in anziehend (Raga)/abstoßend (Dvesa), mag ich/mag ich nicht einmal in Frage zu stellen und vielleicht sogar zu überwinden.
Warum Mysore?
Diese Yoga-Praxis hat eine ganze Reihe von Vorteilen, darunter diese:
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In geführten Ashtanga-Klassen geht die Lehrerin die Serie verbal durch und hat daher normalerweise sehr wenig Kapazität, sich um spezifische Bedürfnisse der einzelnen Schülerin zu kümmern, ihr bei der jeweiligen Asana zu helfen. Dadurch kann man es sich unter Umständen angewöhnen, die eine oder andere Übung nicht völlig korrekt auszuführen. Außerdem gibt die Lehrerin ein einheitliches Tempo vor, das der einen vielleicht zu langsam, der anderen zu schnell ist. In der Mysore-Klasse hingegen arbeiten sich die Schülerinnen in ihrem eigenen Bewegungs- und Atemrhythmus, ihrer eigenen Geschwindigkeit durch die Serie und werden dabei von der Lehrerin gezielt unterstützt. Sie brauchen dazu die Zeit, die sie eben brauchen, und müssen nicht einem von außen vorgegebenen Tempo folgen. Sie bekommen Hilfestellung bei spezifischen Bedürfnissen, auf allfällige Verletzungen, körperliche Besonderheiten usw. wird Rücksicht genommen.
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Mysore verbindet: Wenn Lehrerin und Schülerin in der Mysore-Klasse regelmäßig miteinander arbeiten, weiß die Lehrerin ganz genau, wo die Schülerin steht, wo es hapert, wo die Stärken und Schwächen sind, was die nächsten Schritte sind, und greift genau dort ein. Durch Adjustments, durch gezieltes Hineinhelfen in die Position, durch Korrekturen und durch Hinweise, welche Schwerpunkte zu setzen sind. Vom persönlichen Kontakt, vom gemeinsamen Arbeiten her hat Mysore ein wenig den Charakter einer Privatstunde zwischen Lehrerin und Schülerin, und das, nebenbei gesagt, zu einem weitaus günstigeren Preis. Darüber hinaus schafft die kontinuierliche gemeinsame Mysore-Praxis Vertrauen, Respekt und Verbundenheit zwischen den beiden. Das ist nicht nur deren Folge, sondern auch Voraussetzung, denn es bedarf schon einer bestimmten Portion Vertrauen, sich von der Lehrerin in einen Kopfstand oder eine Krähe hineinhelfen zu lassen. Mysore ist keine Einbahnstraße, sondern gegenseitiger Austausch, eine Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin, bei der beide sowohl Empfänger als auch Sender sind. Yoga entsteht durch die Menschen, die es ausüben, und es schafft auch ganz von selbst eine Verbundenheit mit den anderen Übenden. Und eine Rücksichtnahme, die sich ganz von selbst einstellt: Man rückt mit den Matten auseinander, wenn jemand noch Platz sucht, gibt den anderen Raum, auch im übertragenen Sinne. Es kann sehr hilfreich sein zu wissen, dass man Teil einer Gemeinschaft von Menschen ist, die das Yoga genauso ernst nehmen wie man selbst.
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Mysore-Klassen sind in der Regel sehr ruhig und konzentriert. Es wird nichts angesagt, wie in den geführten Klassen, es gibt keine New Age-Musik. Man hört nichts weiter als das rhythmische, wogende Auf und Ab der Ujjayi-Atmung der Mitübenden, die Geräusche beim Üben – springen, auf der Matte aufklatschen und rumpeln, ruckeln … –, die gelegentlichen leisen Adjustment-Gespräche zwischen Lehrerin und Schülerin. Und hie und da hat man den Eindruck, dass alle, obwohl jede für sich allein übt, sich in einen gemeinsamen Rhythmus eingeschwungen haben. Menschen, die in den Ashtanga-Studios der Welt herumgekommen sind, wissen, dass diese Art des Übens überall ganz ähnlich vor sich geht. Ein herrliches Gefühl, in einer fremden Stadt, in einem unbekannten Studio die vertrauten Mysore-Geräusche zu hören!
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Jeder, der zum ersten Mal in eine Mysore-Klasse kommt, wird sofort bemerken, dass hier eine ganz eigene, ziemlich einzigartige Atmosphäre aus Kraft und Konzentration herrscht. Jede der Teilnehmerinnen ist gerade mit ihrer eigenen Asana beschäftigt, sodass, rein von der Abfolge der Serie her, ein ganz disparates Bild vorherrscht. Dazwischen die Lehrerin, die herumgeht und da und dort ihre Korrekturen und Interventionen anbringt. Alle Teilnehmerinnen wirken konzentriert, und bei den Geübteren merkt man auch die Kraft: Sie haben sich aus der natürlichen Trägheit des Körpers freigespielt und bewegen sich rhythmisch und kraftvoll durch die Asanas. Sie sind auf dem Weg, ihren Körper – und im gleichen Maße auch ihren Geist – zu beherrschen. So können sie, mittels des Umwegs über hochkonzentrierte Körperarbeit, Einblicke in die Funktionsweisen ihres eigenen Geistes gewinnen. Ein schöner, beflügelnder Effekt der Mysore-Klassen ist, dass sich die Konzentration und Energie der Gruppe auf jeden Einzelnen überträgt, man kann geradezu daran ,,andocken“.
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Die Kombination aus Kraft und Konzentration und die intensive Körperarbeit, wie sie für die Mysore-Klassen so typisch sind, haben beglückende Wirkungen auf körperlicher, geistiger, emotionaler und energetischer Ebene. Jede Mysore-Übende, die in der Früh ihre Praxis absolviert hat, kennt das ziemlich einzigartige Wohlgefühl, so richtig gut in ihrem Körper zu stecken wie in einem gut sitzenden Schuh. Wir spüren unseren nach allen Seiten durchgearbeiteten, durchgewalkten, gedehnten und wieder zurechtgerückten, ,,gerichteten“ Körper so wohlig und intensiv, wie wir das sonst kaum je tun. Prana scheint ungehindert durch uns zu fließen, die sonst so lose Verbindung zwischen Körper und Geist hat sich geradezu ineinander verschränkt. Es ist ein Gefühl von Gesundheit, von Kraft, von ,,vibrant energy“, wie es heißt, und der Zuversicht, dass uns nichts Gröberes mehr passieren kann, dass wir dem Leben, was immer es uns jetzt noch bringen mag, gewachsen sind. Mysore ist the real thing. Das kann uns dabei unterstützen, unser Ego etwas zurückzunehmen, sodass wir unter Umständen etwas weniger stark auf Außenreize reagieren, sondern mehr in unserer ,,Mitte“ bleiben und unsere Aktivitäten aus dieser ruhigen, unirritierten ,,Mitte“ heraus setzen. So kann sich tatsächlich die vielzitierte ,,Gelassenheit“ einstellen.
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Während wir bei geführten Klassen verleitet sein können, nur passiv mitzuüben, weil uns ohnehin alles angesagt wird, schaffen wir uns in der Mysore-Klasse unsere Yoga-Praxis sozusagen selbst. Wir sind gezwungen, nicht bloß rein körperlich anwesend zu sein, sondern auch geistig. Wir müssen uns selbst disziplinieren, uns selbst motivieren und selbständig üben. Das ist mit Sicherheit schwieriger, aber auch lohnender als das Üben in der geführten Einheit. Aber genau darum geht es ja, denn Yoga ist eine Konzentrationsübung par excellence, und es unterstützt uns darin mit seinem eigenen Instrumentarium. Wenn wir Asanas üben, halten wir die Konzentrationen auf drei Ebenen: auf der Ebene der Asana, die wir gerade vollführen; auf der von Atmung/Bandhas (Ujjayi-Atmung; Mula Bandha, Verschluss des Damms/Perineums, sowie Uddiyana Bandha, Verschluss auf der Höhe des Bauchnabels) sowie des jeweiligen Drishti. Nicht dass wir nicht nach wie vor Tendenzen zur Ablenkung, zum gedanklichen Wegdriften, zum zerstreuten Herumschauen hätten – aber es ist hilfreich zu wissen, dass wir ein ganzes Arsenal an Techniken haben, die uns jederzeit wieder – und zwar genau jetzt, in diesem Moment – in die Konzentration zurückholen.
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Egal, wie oft wir Yoga üben, es wird uns immer guttun. Eine nachhaltige, transformierende Wirkung, eine Entwick(e)lung im Sinne des Freimachens von unseren Verstrickungen zeigt sich freilich erst durch regelmäßiges Praktizieren. Die Mysore-Praxis hilft uns dabei. Dadurch, dass sie eine derartig intensive Selbstbeschäftigung darstellt, gibt sie uns sozusagen unser Bulletin über unseren – körperlichen, geistigen, emotionalen, energetischen – Zustand. Sie ist ein Spiegel, ein Barometer unseres Befindens. Wo stehen wir gerade? Wo stehen wir in unserer Yoga-Praxis, wo stehen wir in unserem Leben? Mit der Zeit wird es uns immer wichtiger werden, diese Kommunikation mit uns selbst aufrechtzuerhalten. Da diese nur über die Mysore-Praxis zu haben ist, werden wir ganz von selbst zu einer größeren Regelmäßigkeit darin finden. (Gleiches gilt für die reine Selbst-Praxis, doch fehlt bei dieser die korrigierende Außenperspektive durch die Lehrerin und der Austausch mit dieser.)
Wie Mysore?
Wie üben wir Mysore? Indem wir in die Mysore-Klasse gehen. Ganz einfach, sollte man meinen, ist es aber nicht. Denn wenn Mysore nach wie vor ein Minderheitenprogramm in den Yogastudios ist, dann liegt das zum einen daran, dass viele nicht wissen, was Mysore überhaupt sein soll. (Das hoffen wir, mittlerweile geklärt zu haben). Und zum anderen an folgenden Missverständnissen:
Missverständnis Nr. 1: Ich kann die Serie nicht.
Das macht nichts, ganz im Gegenteil. Es ist, wie bereits erwähnt, die traditionelle Art, Yoga zu erlernen, indem wir von der Lehrerin eine Asana nach der anderen zum Üben bekommen. Das Schema der Ersten Serie liegt in der Yogawerkstatt aus, wir können ruhig zu Hause nachschauen, wie’s weitergeht. Nach und nach lernen wir die ganze Serie.
Missverständnis Nr. 2: Mysore ist nur etwas für geübte YogiNis.
Nein, jeder kann kommen, die Ungeübten erlernen die Serie unter Anleitung der Lehrerin, die Geübten arbeiten sich, von der Lehrerin unterstützt, an ihr ab. Es kann nur immer wiederholt werden, dass Mysore-Einheiten – neben bzw. als Alternative zu einem Grundkurs – ein möglicher, gangbarer und guter Einstieg ins Ashtanga Vinyasa Yoga sind.
Missverständnis Nr. 3: Mysore dauert mir zu lange.
In der Yogawerkstatt dauern die Mysore-Klassen 2 bzw. 2,5 Stunden. Das ist aber nichts weiter als der zeitliche Rahmen der Klasse, es heißt nicht, dass die Teilnehmerinnen so lange da zu sein haben. Ganz im Gegenteil, jede kommt, wann sie will, und übt, so lange sie will. Es ist eine selbständige Praxis jeder einzelnen.
Missverständnis Nr. 4: Die Leute in der Mysore-Klasse schauen alle so ernst, sie scheinen zu wissen, wo’s langgeht, und manche sind gerade in ziemlich abgefahrenen Positionen. Das schreckt mich ab.
Sie schauen so ernst? Das schaut nur so aus. Tatsache ist, sie sind konzentriert, manchmal vielleicht etwas gespannt. Und sie strengen sich an: Ashtanga Yoga ist physisch fordernd.
Sie kennen sich aus und wissen, was sie zu tun haben? Stimmt, aber davon brauchen wir uns nicht abschrecken zu lassen, denn, wie gesagt, die Lehrerin wird uns nach und nach unterstützen, die Serie genauso intus zu bekommen.
Abgefahrene Asanas? Durchaus möglich, dass wir uns eines Tages selbst auch einmal in einer solchen wiederfinden. – Und am Ende schauen wir dann genauso ernst drein wie die anderen.