Alan Watts revisited

Der charismatische Guru der Gegenkultur und Vermittler östlicher Philosophie ist zwar seit über vierzig Jahren nicht mehr am Leben, seine Vorträge wirken aber so aktuell, als hätte er sie eben erst ins Netz gestellt. Erinnerung an Alan Watts anlässlich meines Besuchs in den Muir Woods.
Von Romana Delberg

Ich habe im Jänner an einem Schweige-Retreat am Green Gulch Center in der Nähe von San Francisco teilgenommen. Diese Außenstelle des San Francisco Zen Center ist am Rande des Naturschutzgebiets Muir Woods National Monuments angesiedelt, und dass diese Wälder geschützt sind, leuchtet ein, wenn man durch sie spaziert: Sie sind Heimat der Redwoods, dieser unglaublichen, Hunderte Jahre alten Mammutbäume entlang der kalifornischen Küste, und sie sind wirklich rot, und man ist ziemlich winzig neben ihnen.

In den fünfziger Jahren gründeten ein paar Künstler und Bohémiens auf einer Anhöhe in den Muir Woods eine Art Kolonie, die sie Druid Heights nannten. Die fünfziger Jahre mit ihren Beatniks, die Sechziger mit den Hippies – es waren Zeiten der Gegenkultur, insbesondere in der Gegend von San Francisco. Ich erfuhr, dass auch Alan Watts dort eine Hütte bewohnte, das Mandala House. Er hatte 1962 hier zusammen mit der Dichterin Elsa Gidlow die Society For Comparative Philosophy ins Leben gerufen. Aber man machte nicht viel Wind um Druid Heights, um unter sich zu bleiben. Das Hauptquartier der Society war das Hausboot S. S. Vallejo im nahe gelegenen Sausalito, wo er ebenfalls wohnte.

Unter sich bleiben – das ist anscheinend nach wie vor die Devise. Ich wollte zu der Kolonie hinaufspazieren, aber man riet mir ab, die wenigen Leute, die heute noch in den Druid Heights wohnen, sollen sehr ruppig reagieren. Sie wollen keine Massen neugieriger Touristen bei sich haben, die sich ihre Kolonie wie einen Zoo anschauen. Muss man auch verstehen.

So konnte ich mir Alan Watts‘ Haus, das ziemlich am Verfallen sein soll, nicht ansehen. Aber das hat mich jedenfalls dazu gebracht, mich wieder stärker mit Watts zu beschäftigen, der mir vor ein paar Jahren über eines der sozialen Netzwerke erstmals untergekommen war.

Alan Watts hatte Charisma, Witz, Charme und Britishness – ruhige, wohlklingende Stimme, makellose britische Diktion –, und er hatte, davon kann man sich auf Youtube-Filmchen überzeugen, die „power of speech“. Was er zu sagen hatte, sagte er klar, überzeugend, begeisternd, und was er dachte, lag quer zum Mainstream. Er war ein Guru der Gegenkultur und zeigte Möglichkeiten auf, die herrschende Kultur in Frage zu stellen, sich aus ihr herauszuwursteln und damit zu beginnen, ein freies, selbstbestimmtes und bewusstes Leben zu führen.

Alan begann sehr früh, sich mit den östlichen Philosophien und Religionen zu beschäftigen und diese einem westlichen Publikum zu vermitteln – nämlich bereits in den fünfziger Jahren, als sie noch eher obskur und exotisch und in der westlichen Welt noch lange nicht „angekommen“ geschweige denn hip waren. Ohne seine Ausstrahlung und Begeisterungsfähigkeit hätte Zen mit Sicherheit nicht so rasch so viele Anhänger im Westen gefunden. Sein Buch „The Way of Zen“ wurde ein Welterfolg. Er war auch mit dem San Francisco Zen Center in Kontakt und mit dessen Gründer Shunryū Suzuki Roshi freundschaftlich verbunden.

Auf Zen lässt sich Alan aber nicht reduzieren (sofern eine „Reduktion“ auf das wesenhaft offene Zen überhaupt möglich ist). Er war ein Freidenker, ein beweglicher, neugieriger Geist, der Impulse aus dem Buddhismus und dem Taoismus und überhaupt der östlicher Philosophie und Religion aufnahm und verarbeitete. Sein ursprünglicher religiöser Background war das Christentum gewesen, genauer die US-Episkopalkirche, die gewissermaßen die Filiale der anglikanischen Kirche in den USA ist. Er wurde sogar als Priester ordiniert, ließ dieses Amt aber 1950 nach nur fünf Jahren bleiben.

Alan Watts starb 1973, aber sein Einfluss geht weit über seine Lebensspanne hinaus, bis heute. Wach auf zum Leben!, scheint er uns von seinem Ort aus, der jetzt nur noch im Netz und über seine Bücher zugänglich ist, zuzurufen. Wenn man sich seine Talks, beispielsweise auf Youtube, anhört, hat man überhaupt nicht den Eindruck, das wäre etwas Historisches: Die Themen, die er anspricht, betreffen uns heute ganz genauso wie zu seiner Zeit.

Es sind Fragen wie, was soll ich tun, wie meine Bedürfnisse und Freiheit mit den Anforderungen der Gesellschaft versöhnen, wie schaffe ich es, sinnvoll und bewusst zu leben und nicht meine Zeit komplett zu vergeuden. Zumindest für die Dauer seiner Talks gibt Alan uns das Gefühl, dass die Wirklichkeit größer und bedeutender ist, als wir uns das in unserem gewöhnlichen Leben so ausmalen, dass die Welt ein Wunder ist und wir ein Teil davon, und dass wir uns dessen bewusst werden können, wenn wir uns von unseren Zwängen und Illusionen befreien. Zum Beispiel von der Illusion, dass wir als Individuen vom Rest der Welt abgetrennt sind. Nein, die Gegensätze sind, dem Yin-Yang-Prinzip folgend, miteinander verschränkt, wir sind mit allem verbunden.

Etliche der Talks sind mit suggestiver Emo-Musik, mit Eso-Filmchen und -Bildchen unterlegt, was vielleicht nicht jedermanns Sache ist, und kommen in Dreiminuten-Häppchen – womit sie ja genau auf unsere Zeit zugeschnitten sind. Vielleicht hätte ihm, der sich ohnehin als „philosophischer Entertainer“ verstand, das sogar gefallen. Aber es gibt auch eine Reihe langer Vorträge von ihm.

Ein guter Einstieg ist das nur ein paar Minuten dauernde „What if money were no object?“, das die simple, aber einleuchtende Frage stellt, was würdest Du wirklich gerne tun, wenn Geld kein Thema wäre? Was würdest Du mit Deinem Leben machen wollen, wenn sich dieses Thema, das sich in dieser Frage gern besonders massiv einmischt, keines wäre? Eine simple und einleuchtende Frage, die einen Ausblick auf so etwas wie Freiheit gibt. „Was würdest du dann machen? Was würdest du richtig gerne machen? Vergiss das Geld – wenn es das Wichtigste ist, vergeudest Du Deine Zeit. Es ist dumm, Zeit mit Dingen zu verbringen, die man nicht mag. Wenn Du das, was Du wirklich magst, eine Zeitlang tust, wirst Du ein Meister darin – und dann wirst du auch Geld damit verdienen“, sagt er. Für mich war dieser Clip der Einstieg in Alans Gedankenwelt. Er hat mich so sehr berührt, dass ich mir gleich eine Menge Clips auf Youtube angesehen und auch einen Podcast abonniert habe. Jetzt höre ich mir seine Vorträge oft beim Autofahren an.

Ein schönes Beispiel ist auch „Society is a Hoax“, wo Alan uns vorzeigt, wie wir vom Kleinkindesalter an immer auf irgendetwas vorbereitet und hinkonditioniert werden, was später kommt: vom Kindergarten in die Schule auf die Universität und hinein ins Berufsleben, und wir machen alles brav mit, und nach 45 Berufsleben sind wir endlich angekommen. „Dann hast Du endlich die Freizeit und das Geld, um das zu machen, was Du immer wolltest. Das Problem ist nur, dass Du dann wahrscheinlich krank bist und keine Energie mehr hast. Und dann fühlst Du Dich irgendwie getäuscht. Es war alles ein Schwindel.“ Wir werden darauf konditioniert, immer unbedingt eine Zukunft zu brauchen, auf die Zukunft hin zu leben, sodass wir quasi in ihr leben und nie im Jetzt. Das Endziel ist die Pensionierung. Das Versprechen lautet: morgen. „Aber wie sagt man: ,Tomorrow never comes‘. Die Zukunft, der wir entgegenrasen, passiert genau jetzt!“

Wir müssen für die Zukunft leben, werde uns eingebläut, so Alan, denn die Zeit selbst sei so etwas wie ein immer nach oben, in den Fortschritt, weisender Pfeil, ganz wie in den Schemas von Unternehmensentwicklungen. „Aber die Hindus und Buddhisten würden uns sagen: Mit der Zeit geht alles zugrunde – also vergiss die Zeit! Die Zukunft birgt keine Hoffnung für Dich!“ Pläne für die Zukunft zu machen hat nur dann Sinn, ergänzt Alan, wenn wir imstande sind, in der Gegenwart zu leben. Wenn das nicht der Fall ist, ist es auch sinnlos, für eine Zukunft vorauszuplanen, in der wir dann genauso wenig gegenwärtig leben werden, wie wir das jetzt tun. Die Lösung: Leb jetzt, bestimm über Dein Leben, hör auf, Dich fremdbestimmen zu lassen.

Apropos Fremdbestimmung: Probleme damit hatte Alan auch selbst, und zwar in Form seiner Alkoholsucht. Für spirituelle Menschen kann das ein Widerspruch sein: Wie kann einer ein Meister und Vorbild sein, von Meisterung des Lebens und Selbstbestimmung reden – und selbst alkoholabhängig sein?

Ein weiterer Vorwurf, der Alan von Zen-Kreisen mitunter gemacht wurde, ist, dass er Zen sowohl oftmals falsch interpretiert als auch nicht selbst Zazen geübt habe. Dazu kann ich nur sagen: Es gibt so viele Zen-Schulen, und von jeder Zen-Aussage lässt sich auch ihr Gegenteil belegen! Ob Alan tatsächlich Zazen geübt hat oder nicht, kann ich nicht überprüfen. Historisch gesehen gab es, nebenbei bemerkt, immer wieder auch Zen-Strömungen, die Zazen für überflüssig hielten. Allerdings bin auch ich, wie die meisten, die sich ernsthaft mit Disziplinen wie Zen, Buddhismus oder Yoga beschäftigen, der Meinung, dass sich deren Wahrheit erst in der Praxis realisiert.

Ich sehe, dass es da Widersprüche gibt, aber ich muss sagen, es stört mich nicht. Ich finde, man kann aus Alans Verhalten und Schwächen nicht ableiten, dass seine Lehren nichts wert waren. Ein ähnlicher Fall war übrigens auch Trungpa Rinpoche, der große Verbreiter des tibetischen Buddhismus in den Vereinigten Staaten und Gründer des Naropa Institute in Boulder, Colorado: Auch er ein großer Charismatiker, auch er Alkoholiker. Man braucht sich nur die Talks dieser beiden anzuhören und in ihre Bücher hineinzulesen, um festzustellen, dass sie nach wie vor große, unkonventionelle Impulsgeber sind. Alans „The Way of Zen“ beispielsweise ist eine gründliche, ernstzunehmende Zusammenfassung – ob er jetzt tatsächlich gesessen ist oder nicht, ist da relativ Powidl.

Empfohlene Bücher von Alan Watts:

„The Way of Zen“: erstklassige, wissenschaftlich fundierte Einführung, die einen Überblick über die Wurzeln des Zen in der taoistischen Denkungsart und im Buddhismus gibt und diese spezifisch japanische Spielart des Buddhismus anhand ihrer eigenständig entwickelten Praktiken wie Zazen, Koan und Satori erläutert.

„What is Zen?“: populärere Darstellung des Themas.

„The Book On the Taboo Against Knowing Who You Are“: Alan Watts weist anhand der Ergebnisse moderner westlicher Wissenschaft ebenso wie des altindischen Vedanta nach, dass unser vertrauter Ich-Begriff – als Subjekt in einer abgetrennten Objekt-Beziehung zum Rest der Welt – eine Illusion ist. Das ist nicht nur ein höchstpersönlicher Schaden für uns alle – mit Folgeerscheinungen wie dem verbreiteten Gefühl von Entfremdung und Nichtzugehörigkeit in der modernen Welt –, sondern hat auch zu Fehlentwicklungen wie der Umweltzerstörung geführt.

„The Wisdom of Insecurity“: Gerade unser „Zeitalter der Angst“, in dem viele Menschen keine Sicherheit mehr in den traditionellen Glaubensgewissheiten finden, bietet, so Alan Watts, die besten Voraussetzungen, uns der von Illusionen unverstellten Realität und unserer Gegenwart zuzuwenden, ohne sie uns durch Zukunftsängste und -(vor)sorgen madig zu machen. In dieser Hinwendung zu uns selbst, hier und jetzt, können wir unsere Daseinsfreude finden und uns der Tiefe und Bedeutung unseres Lebens bewusst werden. Die mitsamt den traditionellen Religionen verloren gegebene Spiritualität kehrt damit durch die Hintertür zurück.