Es geht um den ganzen Elefanten

In seinem neuen Buch ,,After Buddhism“ skizziert Stephen Batchelor einen Buddhismus, der sowohl auf die Ursprünge der Tradition zurückgeht als auch ein Dharma für unsere säkuläre Zeit sein kann.
Von Harald Sager

,,After Buddhism“ ist Stephens Batchelors Zusammenfassung seines Verständnisses des Buddhismus, das Destillat einer über dreißig Jahre währenden publizistischen Beschäftigung mit dem Thema. Die Grundfragen, die sich für ihn immer und immer wieder stellen, sind: Was bedeutet es, das Dharma – die buddhistische Lehre – in unserer Zeit zu praktizieren? In welcher Weise ist es für uns Heutige relevant? Wie lässt sich das Dharma mit unserem modernen Leben verbinden? Und: Kann es ohne quasi-religiöse Institutionen, ohne Dogmatik, Metaphysik und Weltabgewandtheit auskommen, also säkulär sein?

Letztere Frage hat Stephen Batchelor bereits in seinem Essay ,,A secular Buddhism“ von 2012 zustimmend beantwortet, der quasi skizzenartig darlegt, was im neuen Buch auf 340 Seiten ausgearbeitet wird.

Stephen Batchelor

Ganz im Sinne buddhistischen Traditionen beginnt Stephen Batchelor sein Buch mit einem Gleichnis, das der Buddha selbst einmal erzählte, als er mit einer Gruppe Asketen, Priestern und weisen Männern konfrontiert war, die alle verschiedene Meinungen über einige der großen Fragen – ist die Welt ewig oder nicht, ist sie endlos oder nicht, sind Körper und Seele identisch, leben wir nach dem Tod weiter oder nicht und wie steht es in der Hinsicht um den Erwachten usw. – hatten. Jeder war überzeugt, dass nur seine Sicht die richtige und wahre wäre. In dem Gleichnis lässt sich ein König alle von Geburt auf Blinden seines Reichs zu sich kommen und einen Elefanten vorführen. Nachdem die Blinden unterschiedliche Körperteile des Elefanten – die Ohren, den Rüssel, ein Bein, eine Flanke, den Schweif – betastet haben, fragt der König sie, ,,Nun also, was ist ein Elefant?“ Und jeder Blinde antwortet etwas anderes. Einmal ist er wie ein Abstellraum, ein anderes Mal wie eine Säule, wie ein Besen und so fort – bis die Blinden, jeder in der Überzeugung, zu wissen, was ein Elefant nun ist, aufeinander losgehen.

Die Moral von der Geschichte ist, dass das Dharma sich nicht auf eine Reihe von Wahrheitsbehauptungen reduzieren lässt, auf die ja doch nur gegenteilige Argumente folgen würden, und so endlos weiter. ,,Ein Anhänger des Dharma streitet mit niemandem“, sagte der Buddha. Schon gar nicht, wenn es um metaphysische, sprich wesenhaft unentscheidbare Fragen geht. Daher ließ er sich auch nicht auf die Argumente der Gruppe ein. Ihm ging es um das Dharma, den ,,ganzen Elefanten“.

Dieser ,ganze Elefant‘ lässt sich mit einem komplexen Lebewesen vergleichen, dessen einzelne Teile dieses rätselhafte Wesen, das atmet, isst, aufrecht geht und schläft – nämlich uns – mit Leben erfüllt. Die Dharma-Praxis zeigt die Grenzen des menschlichen Denkens und der Sprache auf, sobald wir uns mit dem Rätsel auseinandersetzen, überhaupt da zu sein. Alle Menschen, ob sie nun religiös oder säkulär sind, teilen dieses Gefühl des Nichtwissens und des Wunders“, sagt Stephen Batchelor und spricht damit auch schon seine zentrale Aussage aus: dass das Dharma nämlich seinem Wesen nach säkulär ist, das heißt, keine religiösen oder metaphysischen Aussagen macht bzw. sich nicht darauf festlegen lässt. Und daher ist es für alle, ob religiös oder nicht, zugänglich.

Im Gegenteil, metaphysische Festlegungen sind sogar hinderlich dabei, das Dharma für sich anzunehmen, und auch dazu gibt es eine schöne Parabel, die der Buddha erzählte und Batchelor zitiert: Ein Mann wurde von einem vergifteten Pfeil getroffen und liegt blutend und verwundet da. Seine Freunde wollen einen Arzt rufen, der den Pfeil aus seinem Leib entfernen soll, doch der Mann besteht darauf, zuerst wissen zu wollen, wer den Pfeil abgeschossen hat, wo der Mann wohnt, wie er aussieht, aus welchem Holz der Pfeil geschnitzt ist, welche Art von Feder auf dem Pfeil angebracht ist, und so weiter und so fort. Natürlich wird der Mann sterben, ehe er seine Antworten bekommt. Für den Buddha ist das die Geisteshaltung jener, die zuerst alle ihre metaphysischen Fragen beantwortet haben wollen, ehe sie sich eventuell dem Dharma zuwenden. Die Aufgabe liege jedoch darin, das Dharma anzunehmen und dadurch den ,,Pfeil“ des Leidens zu entfernen.

Stephen Batchelors public talk in der Yogawerkstatt

Metaphysische Spekulation ist Nebensache – dieser Punkt ist Stephen Batchelor vor allem deshalb so wichtig, weil er das Dharma insbesondere uns westlichen Menschen von heute nahebringen möchte, die wir ja in einer weitgehend säkulären Welt leben. Dabei kommt ihm der Umstand zu Hilfe, dass der Buddhismus im Laufe seiner mehr als 2.400 Jahre währenden Entwicklung immer wieder in wechselseitig befruchtenden Beziehungen mit den verschiedensten  Kulturen – der indischen, chinesischen, japanischen, koreanischen usw. – gestanden ist. Warum sollte eine solche nicht auch mit unserer gegenwärtigen westlichen Kultur entstehen? Weder diese noch das Dharma brauchen sich dabei zu verleugnen, es geht, wie gesagt, um gegenseitige Bereicherung.

Wie sehr bestimmte Konzepte aus dem Buddhismus in der westlichen Kultur bereits angekommen sind, zeigt sich an der ,,mindfulness”, der vielzitierten ,,Achtsamkeit”, die heute im Rahmen von Managementseminaren und in den verschiedensten Zweigen der Wirtschaft ebenso geübt wird wie auf Vipassanas.

Als christlich geprägter Mensch versucht Stephen Batchelor, die ,,menschliche Seite“ des Buddha herauszuarbeiten, dessen Leben und Taten uns seiner Meinung nach genauso viel über das Dharma sagen können wie die schriftlichen Quellen. Und als protestantisch, sprich kirchenskeptisch sozialisierter Mensch ist er auch gegenüber dem ,,Buddhismus“ mitsamt seinen Sekundärquellen vorsichtig und sucht mit Hilfe des Studiums der Originaltexte einen direkten, unvermittelten Zugang zum Dharma. (Wie ja auch der Begriff ,,Buddhismus“ von westlichen Gelehrten im 19. Jahrhundert eingeführt worden ist – weshalb Batchelor ,,Dharma“ vorzieht.) Ein Ansatz übrigens, den auch bestimmte ChristInnen haben, die das Wort Christi jenseits des kirchlichen Überbaus suchen.

Interessanterweise sieht Stephen Batchelor gerade im Zusammentreffen von Dharma und westlicher Kultur die Impulse, die den Buddhismus in unserer Zeit weiterbringen werden. Und sie kommen auch eher von jenen BuddhistInnen, die nicht klösterlich leben, sondern säkulär. Im Osten, stellt er fest, ist der Buddhismus oft geistig erstarrt und dem Modell des zölibatären Mönchtums verhaftet. Die Klöster sind meist hierarchisch, autoritär und patriarchalisch organisiert, Frauen sind nicht gleichberechtigt, Laien werden darauf reduziert, dem Sangha bloß zu dienen – lauter Verhaltensweisen, die nicht nur den modernen Grundsätzen von Gleichheit und menschlicher Würde zuwiderlaufen, sondern auch den Vorstellungen des Buddha selbst. Dieser nämlich wollte, so Batchelor, einen Sangha aufbauen, ,,dessen Mitglieder, egal, ob sie nun Männer oder Frauen, Laien oder Mönche bzw. Nonnen waren, auf allen Ebenen gleichgestellt waren: in der Dharma-Ausbildung, die sie erhielten, in den Praktiken, die sie ausübten, um das Dharma zu erfahren und zu meistern, und in der Verantwortung, es zu verbreiten“.

Eine Darstellung des Budhha

Stephen Batchelor hält dem konservativen, klösterlich organisierten sowie dem weltabgewandten, ,,heiligen“ Buddhismus einen Sangha von Menschen entgegen, die im Leben tätig bleiben, sich voll und ganz dem Leben stellen – und gleichzeitig die Herausforderung annehmen, ihr Leben mit den Werten des Dharma in Enklang zu bringen. (Was im Übrigen auch durchaus eine historische Sichweise ist, denn die buddhistischen Klöster früherer Zeit hatten zahlreiche weltliche, säkuläre Funktionen wie Gesundheitsversorgung, Ausbildung, Waisenbetreuung und Ähnliches inne, die erst nach und nach von staatlicher Seite übernommen wurden.) Daher zeichnet Batchelor gerade auch die Lebensgeschichten von historischen Anhängern des Buddha nach, die in der Welt tätig geblieben sind, wie Mahanama, dessen Cousin, Pasenadi, der König von Kosala, und der Arzt Jivaka.

Batchelors Buddhismus ist weltzugewandt und skeptisch in dem Sinne, dass er Glaubenssätze wie Karma oder Wiedergeburt nicht einfach für sich übernimmt. Dazu ist er zu sehr westlicher Mensch und will das auch gar nicht verleugnen. Ganz im Gegenteil, an einer Stelle schreibt er, dass es ihn immer wieder frappiert hat, wie westliche Konvertiten zum Buddhismus, die ebenso säkulär aufgezogen worden sind wie er, plötzlich buddhistische Dogmen wie die erwähnten einfach so unkritisch übernehmen.

Batchelor hingegen schwebt ein ,,säkulärer Buddhismus“ vor, der sowohl auf die Ursprünge der Tradition zurückgeht als auch ein Dharma für unsere säkuläre Zeit sein kann. Um einen solchen freizulegen, klopft Batchelor die kanonischen Texte nach ihren unterschiedlichen Schwerpunkten ab, die er als tendenziell poetisch, dramatisch, skeptisch, pragmatisch, dogmatisch oder mythisch klassifiziert. Dabei macht er kein Hehl daraus, dass er zu den skeptischen und pragmatischen tendiert.

Das hört sich auf den ersten Blick nach einer unzulässigen Verengung an, aber hier ein Beispiel: Einer frühen Quelle zufolge soll Buddha kurz nach seiner Erleuchtung schwer erkrankt sein, woraufhin Mara, eine dämonische Personifizierung des Todes, ihn zu überzeugen versuchte, doch zu sterben, um endlich ins Nirvana eintreten zu können und vom Leid befreit zu sein. Der Buddha jedoch lehnte das mit der Begründung ab, er wolle nicht sterben, ehe er nicht das Dharma in die Welt gebracht und verbreitet habe. – Klarer Fall eines mythischen Texts, und ebenso klar für Stephen Batchelor wie für heutige LeserInnen, dass man ihn nicht mehr buchstäblich lesen kann.

Bei dogmatischen Aussagen wiederum, die dem Buddha zugeschrieben werden, geht Stephen Batchelor so vor, dass er sie quasi aussortiert, wenn sie ebenso gut auch von einem jainistischen Mönch oder einem brahmanischen Priester seiner Zeit stammen könnten. ,,Wenn der Buddha sagt, dass eine bestimmte Handlung ein gutes oder ein schlechtes Ergebnis in einem künftigen Himmel bzw. einer künftigen Hölle zeitigen werde, oder wenn er davon spricht, den sich wiederholenden Zyklus von Wiedergeburt und Tod zu einem Ende zu bringen, um ein endgültiges Nirvana zu erreichen – dann nehme ich das mehr als Äußerungen im Rahmen des Weltbilds seiner Zeit und weniger als wesenhafte Bestandteile des Dharma. Stattdessen nehme ich jene Aussagen des Buddha ernst, die eben nicht der geläufigen Gedankenwelt des fünften Jahrhunderts v.Chr. entspringen, sondern originär von ihm sind.“

Nachdem Batchelor den buddhistischen Kanon solcherart von dessen metaphysischen Anteilen ,,entrümpelt“ hat, bleiben für ihn vier originär buddhistische Grundideen übrig, sprich, solche, die man nicht auch im Hinduismus und im Jainismus jener Zeit findet. Er nennt sie die ,,die vier P“:

  • das Prinzip der Bedingtheit (Ursache-Wirkung);
  • die Praxis der vierfachen Aufgabe (klassischerweise die ,,Vier Edlen Wahrheiten“ genannt);
  • die Perspektive der Achtsamkeit
  • die Kraft (Power) der Eigenständigkeit

Diese Grundideen sind natürlich miteinander verschränkt: Das Prinzip der Bedingtheit bildet den Kontext, in dem sich die Praxis der vierfachen Aufgabe entfaltet, die wiederum darin besteht: Einsicht in das Leiden zu gewinnen und es vollständig zu erfassen ; es loszulassen, darauf abwehrend zu reagieren; den Prozess der Nicht-Reaktivität klar zu sehen; und den ,,achtfachen Pfad“ (rechte/r/s Einsicht, Entschluss, Rede, Handeln, Lebensunterhalt, Streben, Bewusstheit, Versenkung) zu kultivieren, dem seinerseits die Perspektive der Achtsamkeit zugrunde liegt. Was alles letztendlich zur Kraft einer eigenständigen Dharma-Praxis führt.

Stephen Batchelor stößt sich in mehreren Punkten an der buddhistischen Orthodoxie. Anhand seiner eigenen, auch philologischen Studien der frühen Texte und Zeugnisse von Reden und Taten des Buddha versucht er nachzuweisen, dass es sich beim Dharma im ursprünglichen Sinne nicht um ,,Wahrheiten“ handelte, sondern um ,,Aufgaben“, die uns im Rahmen unseres In-der-Welt-Seins gestellt werden. Wahrheiten, so Batchelor, seien metaphysische Postulate, Aufgaben hingegen konkrete, situationsbezogene Lösungsansätze.

Ein zweiter zentraler Punkt, an dem Stephen Batchelor die Orthodoxie in Frage stellt, ist der des Leidens, das in der Praxis der vierfachen Aufgabe (üblicherweise, wie erwähnt, als die ,,Vier Edlen Wahrheiten“ bezeichnet) angesprochen wird. Für ihn ist Dreh- und Angelpunkt der Aufgabe eben nicht das Leiden, sondern die Totalität dessen, was einem Menschen in Reibung mit der Welt im Laufe seines Lebens geschieht. Es handele sich darum, das Leben im Ganzen anzunehmen, ein Leben, das gleichermaßen von Schmerz und von Freude, von Leid und Lust geprägt ist. Entsprechend wandelt er die ,,Vier Edlen Wahrheiten“ in folgende Aufforderungen um: Nimm das Leben an. Lass das, was kommt, los. Beobachte, wie es aufhört. Handle!

Wir können das Dharma, so Stephen Batchelor, mitsamt seinen ethischen Implikationen annehmen, ohne religiös werden oder in ein Kloster gehen zu müssen. Es handelt sich um einen persönlichen und ethischen Weg des In-der Welt-Seins, entscheidend sei, wie Batchelor einmal in einem Vortrag meinte, ,,to do the business of living a bit better, to embrace this world second by second.” Es geht demnach, wie schon anfangs erwähnt, um den ganzen Elefanten.

,,After Buddhism“ ist bei uns in der Yogawerkstatt erhältlich.